Ein Monat seitdem der Konflikt in der Ukraine eskaliert ist, sind Millionen Zivilist*innen in einer humanitären Notlage, die sich zur schnellsten und größten Vertreibungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgeweitet hat. Nach UN-Schätzungen brauchen bei anhaltenden Kampfhandlungen 13 Millionen humanitäre Hilfe zum Überleben, 6.5 Million Menschen sind bereits intern vertrieben und 3.5 Millionen außer Landes geflohen. Bis dato hat die Bundesregierungen die richtigen politischen Prioritäten gesetzt, indem das ganze diplomatische Gewicht Deutschlands für die Beendigung des Konflikts eingesetzt und die nötige finanzielle und praktische Unterstützung für vom Konflikt direkt betroffene Menschen bereitgestellt wurde. 

Jedoch ist absehbar, dass die humanitären Auswirkungen und menschliche Not infolge des Ukrainekonflikts Jahre andauern werden. Daher muss die Bundesregierung jetzt mit der nötigen Weitsicht politische Weichen stellen, um dem eigenen Anspruch an eine wertebasierte Außen- und menschenwürdige Migrationspolitik gerecht zu werden. Dazu braucht es eine engere Abstimmung aller Ministerien und eine stärkere politische Koordination durch das Kanzleramt. Denn insbesondere angesichts der deutschen G7-Präsidentschaft hat das politische Handeln Deutschlands eine nicht zu unterschätzende Strahlkraft, die es gilt jetzt im Sinne des Selbstanspruchs der Ampelkoalition auszufüllen.

Hier sind 3 Forderungen an die Bundesregierung

1. Angemessene finanzielle und diplomatische Reaktion auf humanitäre Bedarfe in der Ukraine

IRC begrüßt ausdrücklich, dass bereits knapp 80 Millionen Euro aus Mitteln des AA und BMZ für die gestiegenen humanitären Bedarfe bereitgestellt und ein weiteres Sondermittel angekündigt wurden. Jetzt muss sichergestellt werden, dass Gelder entsprechend der humanitären Grundsätze bedarfsorientiert und so effektiv wie möglich genutzt werden. Vorrangig sollten lokale ukrainische Hilfsorganisationen und Frauenrechtsorganisationen unterstützt werden, ihre Arbeit in Partnerschaft mit internationalen NGOs auszuweiten.

Das diplomatischen Engagements der Bundesregierung muss weiterhin auf einen sofortigen Waffenstillstand und allseitig respektierte Kampfpausen abzielen, um Menschen humanitär unterstützen zu können. Gezielte Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser und Einkreisungen von Städten gefährden Hunderttausende und sind ein schwerer Verstoß des humanitären Völkerrechts. Daher sollte sich die Bundesregierung in der UN-Generalversammlung für ein unabhängiges Gremium zur Überwachung und Dokumentation des humanitären Zugangs in der Ukraine einsetzen.

2. Mittelfristige, solidarische Perspektiven für die Aufnahme von Menschen aus der Ukraine

Deutschland sollte in enger Abstimmung mit EU-Regierungen in besonderer Weise Verantwortung übernehmen für eine solidarische europäische Antwort auf die ukrainische Vertreibungskrise. Schutzsuchende, die weiterziehen wollen, sollten durch einen Verteilmechanismus Aufnahme in anderen EU-Staaten finden und dabei persönliche Bindungen und die Verfügbarkeit spezifischer Unterstützungsangebote berücksichtigt werden. Die deutsche Aufnahmezusage für 2.500 Geflüchtete aus Moldau ist dabei ein erster Schritt, auf den jetzt aufgebaut werden sollte. Über 2 Millionen Geflüchtete - mehr als 60% der aus der Ukraine geflohenen Menschen – sind derzeit in Polen. Auch haben über 160.000 nicht-ukrainische Drittstaatsangehörige das Land verlassen und sind derzeit in Rumänien und Moldau. Angesichts der Gefahr einer Überlastung der Aufnahmekapazitäten in den direkten Anrainerstaaten muss garantiert werden, dass Grenzen weiter offen bleiben, angemessene Finanzmittel bereitgestellt und alle europäische Staaten solidarisch die Erstaufnahme von Geflüchteten unterstützen. 

Nach offiziellen Angaben sind innerhalb des ersten Monats nach Konfliktbeginn rund 246.000 Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. IRC begrüßt ausdrücklich, dass die Bundesregierung in Umsetzung der EU-Richtlinie zum temporären Schutz Geflüchteten aus der Ukraine eine zweijährige Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Aufenthaltsgesetz mit sofortigem Zugang zu Arbeit, Unterkunft, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfe erteilen will. Nun muss es um die tatsächliche Umsetzung gehen.

In folgenden Punkten benötigt es Klarheit

3. Umfassende Reaktion auf die Dominoeffekte der Ukrainekrise für humanitäre Krisen weltweit

Der Konflikt in der Ukraine führt zu steigendem Hunger in Krisenregionen wie Afghanistan, Jemen, Syrien, Somalia oder in der Sahelzone durch einen Einbruch der weltweiten Getreidelieferungen und steigende Kraftstoffpreise. Die Bundesregierung sollte die G7-Präsidentschaft nutzen, eine Selbstverpflichtung aller G7-Ländern einzufordern, dass 50% aller internationalen Hilfsgelder Menschen in fragilen Konfliktregionen unterstützen. Dafür muss auf die steigenden Bedarfe im neuen Bundeshaushalt zusätzliche Gelder bereitgestellt werden. 

Auch droht die Ukrainekrise den Bruch des humanitären Völkerrechts weiter zu normalisieren. Deutschland muss daher jetzt konkreten Einsatz zeigen für die Verteidigung des Völkerrechts durch verbesserte Rechenschaft. Nur wenn es jetzt mit der vollen Aufmerksamkeit der G7-Regierungen gelingt Rechtsnormen aufrecht zuhalten, besteht Hoffnung auch in anderen Kontexten die multilaterale Weltordnung zu verteidigen und Zivilist*innen vor staatlicher Willkür zu schützen. Umso wichtiger ist es jetzt sicherzustellen, dass nicht auch im Fall der Ukraine Blockaden im UN-Sicherheitsrat robuste Rechenschaftsmechanismen verhindern. 

Ralph Achenbach, Geschäftsführer IRC Deutschland, sagt: 

,,Wie die Bundesregierung auf die Ukrainekrise reagiert, ist ein Prüfstein für den Selbstanspruch der Ampelkoalition sich mit allen politischen Mitteln für Menschenrechte und die multilaterale Ordnung einzusetzen. Spätestens wenn vor unserer Haustür die humanitären Grundregeln gebrochen werden, muss alles politische Gewicht für ein Ende der Straflosigkeit eingebracht werden.

Im ersten Monat des Konflikts hat die Bundesregierung durch diplomatischen und finanziellen Einsatz sowie die Bereitschaft zur Aufnahme von Schutzsuchenden die richtigen Schwerpunkte gesetzt. Entscheidend ist jetzt, dass die Standards, die wir im Zusammenhang mit der Ukrainekrise innerhalb Deutschlands bei der Aufnahme von Geflüchteten pflegen, auch in anderen Krisensituationen Anwendung finden. Nur wenn wir Vorbild sind, können wir andere EU-Länder und unsere G7-Partner dazu bewegen, ihre Anstrengungen zu verstärken - für Menschen, die von der Ukrainekrise betroffen sind und für Menschen in Krisenregionen weltweit. 

Die große Solidarität und politische Aufnahmebereitschaft für Geflüchtete aus der Ukraine ist überwältigend. Bei der schnellen Hilfe und Unterstützung für sie muss jedoch darauf geachtet werden, dass andere Schutzsuchende nicht nach anderen Standards behandelt und ihre Bedürfnisse verdrängt werden. Menschenwürdige Unterbringung, Zugang zu Integrations- und Sprachkursen, zügige Bearbeitung von Anträgen in der Verwaltung sind nur einige von vielen Rechten, die für alle Schutzsuchenden gleichwertig gewährleistet sein müssen. Es wird beispielsweise Zeit, dass die Regierung den Weg frei macht für uneingeschränkten und sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt und damit gesellschaftliche Teilhabe für alle Schutzsuchenden, wie im Koalitionsvertrag angekündigt. Die besten Absichten und finanziellen Mittel können losgelöst von einer wertebasierten Außen- und Migrationspolitik keine bleibende Verbesserung für krisenbetroffene Menschen erwirken.”

Heather Macey, Teamleiterin des International Rescue Committee in Polen, sagt:  

,,IRC ist besorgt über die fast 10 Millionen Vertriebene und Geflüchtete, die humanitäre Hilfe benötigen, in der größten und schnellsten Vertreibungskrise Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Gewalt nimmt zu, Brücken und Straßen werden zerstört und es mangelt an Ressourcen und Informationen darüber, wo sie Sicherheit und Unterkunft finden können.Das Tempo der Vertreibung ist beispiellos, und der Bedarf an Unterstützung steigt von Tag zu Tag - vor allem für Frauen, Kinder und ältere Menschen, die den Großteil der vertriebenen Menschen ausmachen.

Die IRC-Bedarfsanalyse in Polen ergab, dass die ukrainischen Befragten am häufigsten einen Arbeitsplatz benötigten. Unabhängig davon, ob sie in Polen bleiben oder schnellstmöglich in die Ukraine zurückkehren möchten, wollen die Geflüchtete etwas zurückgeben. Die Bewertung ergab auch, dass die Mehrheit der Befragten ältere Menschen oder Mütter mit Kindern waren, die sich in Polen allein um ihre Kinder kümmern und unbedingt Arbeit finden wollen. Investitionen in die Integration von Geflüchteten in Polen und den Nachbarländern der Ukraine sind so schnell wie möglich erforderlich - auch für nicht-ukrainische Staatsangehörige.”

Was macht IRC?

IRC baut Programm- und Unterstützungsangebote in Deutschland momentan signifikant aus, um Geflüchtete aus der Ukraine deutschlandweit unterstützen zu können. Dabei werden bestehende Programmformate angepasst und erweitert, die bereits in den letzten Jahren entwickelt und zahlreich erprobt wurden. Dies beinhaltet u.a. Treffen für Eltern, Workshops zur Arbeitsmarktintegration und Weiterbildungen für pädagogische Fachkräfte. Bereits jetzt stehen zahlreiche Materialien kostenlos zum Download oder zur Bestellung in Print zur Verfügung

Über Partnerorganisationen in Polen stellt IRC über eine bestehende Hotline Informationsdienste bereit, bietet Rechtsberatung und psychologische Unterstützung an und erleichtert vertriebenen Menschen den Zugang zu Dienstleistungen durch Sozialarbeiter*innen, Dolmetscher*innen und Kulturassistent*innen. Über Partnerorganisation in der Ukraine stellt IRC auch Evakuierungsdienste und lebensnotwendige Mittel für die vertriebenen Menschen bereit, je nach individuellem Bedarf. Dazu können Decken, Schlafsäcke, warme Kleidung oder Bargeld gehören.

Interview

Factsheet zu der Lage in Deutschland