• 73 Prozent berichten über einen Anstieg der häuslichen Gewalt

  • 51 Prozent geben an, es gäbe mehr sexualisierte Gewalt

  • 32 Prozent erklären, Früh- und Zwangsverheiratung hätte zugenommen

Rund zehn Monate nach Bekanntwerden der ersten COVID-19-Infektionen stellt International Rescue Committee (IRC) fest, dass der Anstieg von geschlechtsspezifischer Gewalt infolge der Pandemie noch höher ist als ursprünglich erwartet. Befragungen von mehr als 850 geflüchteten oder vertriebenen Frauen im Rahmen einer neuen IRC-Studie haben ergeben, dass rund dreiviertel der Frauen von mehr häuslicher Gewalt sprechen, über die Hälfte der Frauen berichten von sexualisierter Gewalt, jede Dritte von ihnen erzählt von mehr Früh- und Zwangsehen. Die Studie wurde in 15 Ländern in Ost- und Westafrika sowie der Region der großen Seen durchgeführt, im Kontext langandauernder und oftmals vergessener humanitärer Krisen.

Der Anstieg der häuslichen Gewalt ist weitgehend auf Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen, die zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie verhängt wurden, zurückzuführen. Dadurch waren gefährdete Frauen und Mädchen ihren Peinigern noch schutzloser ausgeliefert. Diese konnten vielerorts verhindern, dass die betroffenen Frauen und Mädchen bei Freunden und Familie Schutz suchen oder professionelle Hilfsangebote in Anspruch nehmen konnten.

Auch Folgewirkungen von COVID-19, insbesondere die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen, haben – so die Mehrheit der Befragten – zu einer Zunahme von Gewalt im eigenen Haushalt als auch in der umliegenden Gemeinde beigetragen. Darüber hinaus habe sich die Schließung von Schulen nachteilig auf die Sicherheit von Mädchen ausgewirkt und zu einer Zunahme von sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch sowie Teenagerschwangerschaften und Zwangsheirat von Minderjährigen geführt. 

Aufgrund verstärkter Hygienemaßnahmen, zum Beispiel häufigerem Händewaschen, mussten vor allem Frauen und Mädchen häufiger Wasser holen und waren damit vermehrt der Gefahr gewaltsamer Übergriffe ausgesetzt. Jede dritte Befragte (31 Prozent) berichtete über Belästigung und sexualisierte Gewalt auf dem Weg dorthin und jede fünfte (21 Prozent) über Belästigung an der Wasserstelle selbst.

Auf die Frage, warum Frauen und Mädchen, die häusliche oder sexualisierte Gewalt erlebt haben, keine Hilfe suchen würden, nannten mehr als die Hälfte von ihnen (56 Prozent) Angst als Grund für ihr Schweigen: Sie wollten nicht als Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt (GBV) identifiziert werden und anschließend mit dem damit verbundenen Stigma leben müssen. Aufgrund der Bewegungseinschränkungen und zusätzlichen Überwachung an Kontrollpunkten wurde diese Angst weiter verstärkt.

Weltweit wurde Gewalt gegen Frauen schon mehrfach und teils höchst prominent als „Schattenpandemie“ von COVID-19 bezeichnet. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen forderte in diesem Zusammenhang einen „Waffenstillstand in Bezug auf häusliche Gewalt“. Frauen und Mädchen müssten in den Mittelpunkt der Wiederaufbaubemühungen gestellt werden.

Eine angemessenere Unterstützung für Programmarbeit und deren Finanzierung konnte dadurch jedoch nicht erreicht werden. Dabei sind sowohl finanzielle Mittel zur Umsetzung lebensrettender Programme wichtig als auch die Art und Weise, wie die Krisenreaktion geplant wird. Die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Gesundheitskrisen sind spätestens seit den jüngsten Ebola Krisen hinreichend bekannt. GBV-Expert*innen in Konflikt- und Krisensituationen berichten stattdessen, dass sie erneut bei der strategischen Planung und Entscheidungsfindung nicht miteinbezogen wurden. In einigen Fällen wurden Mittel und Unterstützung sogar auf andere Gesundheitsbereiche, wie Infektionsvorbeugung, umverteilt.

„25 Jahre nach der Verabschiedung der Aktionsplattform von Peking und 20 Jahre nach der UN-Resolution 1325 über Frieden und Sicherheit von Frauen sollten wir jetzt die Fortschritte auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter feiern können“, sagt Nicole Behnam, Senior Director für Violence Prevention and Response von International Rescue Committee. „Stattdessen führt COVID-19 sogar zu Rückschritten – insbesondere für Frauen und Mädchen in Konflikt- und Krisengebieten. Trotz der frühen Warnung, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen zunehmen wird, und der Lehren, die aus der Ebola-Krise gezogen wurden, behandelt die internationale Gemeinschaft geschlechtsspezifische Gewalt nach wie vor als nachrangiges Problem. Ausreden haben ausgedient. Den Worten müssen jetzt Taten folgen: sinnvolle Maßnahmen und eine angemessene Finanzierung.“