Laut neuen UNHCR-Erkenntnissen waren im vergangenen Jahr 100 Millionen Menschen gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Davon sind 89,3 Millionen Menschen aufgrund anhaltender Konflikte und Katastrophen in Ländern wie Afghanistan, Syrien, Jemen, Somalia und Äthiopien auf der Flucht, teils seit mehr als zehn Jahren. Hinzu kommen seit Jahresbeginn u.a. die mehr als 7 Millionen Binnenvertriebenen innerhalb der Ukraine und mehr als 6 Millionen Menschen, die über die Landesgrenze flüchteten. Erstmal überschreitet so die Zahl der weltweit Geflüchteten die 100-Millionen-Marke, ein Anstieg um 20% im Vergleich zu den 82,4 Millionen Vertriebenen Ende 2020. Damit hat sich die Zahl der Menschen auf der Flucht in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt.  

Die katastrophalen Vertreibungszahlen sind inzwischen zur neuen Normalität geworden. Gewalt und Klimakrisen nehmen nicht ab, und verschärfen die humanitäre Not in Krisengebieten weltweit. 41 Millionen Menschen stehen am Rande einer Hungersnot, die durch den Krieg in der Ukraine noch verstärkt wird. 274 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dies entspricht einem Anstieg um 63% in nur zwei Jahren.  

IRC ruft die Weltgemeinschaft dazu auf, Programme für Resettlement und humanitäre Aufnahme auszubauen. Auf europäischer Ebene fordert IRC die Verpflichtung, im Jahr 2023 mehr als 40.000 Geflüchtete aufzunehmen, was einer Verdopplung zu den 20.000 Resettlementplätzen für 2022 entsprechen würde. Deutschland muss dazu einen substantiellen Beitrag leisten, zusätzlich zu den bereits bestehenden Zusagen wie dem Afghanistan Bundesaufnahmeprogramm. Zudem bedarf es weiterer finanzieller Unterstützung in Krisengebieten, wo sich Systemversagen auf allen Ebene zeigt und die humanitäre Lage besonders prekär ist: Geberregierungen müssen dafür 50% der öffentlichen Entwicklungsgelder (ODA) für fragile und konfliktbetroffene Staaten bereitstellen. 

David Miliband, Präsident und CEO von IRC, sagt: 

"Ohne konkretes Handeln wird die historische Zahl von 100 Millionen auf der Flucht nur der Vorläufer für immer höhere Zahlen sein. Nicht nur weil es sich um die größte Zahl an Vertriebenen seit dem Zweiten Weltkrieg handelt, und auch nicht wegen der beispiellosen Geschwindigkeit, mit der die Welt diese erschreckende Zahl erreicht hat. Der diesjährige Weltflüchtlingstag ist historisch, weil er das Ausmaß des globalen Systemversagens anhand von 100 Millionen Schicksalen aufzeigt: ein Versagen der Staaten, der Diplomatie und der regelbasierten internationalen Ordnung. 

Der diesjährige Weltflüchtlingstag darf nicht nur ein Tag der Reflexion sein. Er muss ein Tag des Handelns sein, um Straflosigkeit zu bekämpfen und die Unterstützung für Geflüchtete und ihre Aufnahmegesellschaften zu stärken. Das Ausmaß der humanitären Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine muss zum Standard auch für Betroffene anderer Krisen werden.  

Für die Rekordzahl von Vertriebenen weltweit brauchen wir ein umfassendes System-Upgrade. Dazu gehört auch eine sinnvolle Aufstockung der humanitären Hilfe für die schlimmsten Krisengebiete der Welt und der weltweiten Resettlement- und humanitären Aufnahmeprogramme. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie dieser düstere Meilenstein im nächsten Jahr übertroffen wird, während die Menschen in den Krisengebieten weltweit den Preis für unsere Untätigkeit mit ihrem Leben bezahlen."

Ralph Achenbach, IRC Deutschland Geschäftsführer, kommentiert: 

,,100 Millionen Geflüchtete sind 100 Millionen Gründe für eine Zeitenwende. Es braucht vor allem Veränderungen in drei Bereichen: Erstens, die Bundesregierung sollte zum G7-Gipfel die anderen Staats- und Regierungschef*innen dazu bewegen, ebenfalls ihre Finanzierungszusagen einzuhalten. Viele der Humanitären Hilfspläne sind trotz der bekannten Notlagen drastisch unterfinanziert. Zweitens, humanitäre Gelder müssen effizienter eingesetzt werden - durch flexiblere, mehrjährige Programme zum einen, durch das Angehen systemischer Herausforderungen wie Geschlechterungerechtigkeit und Klimawandel zum anderen. Dabei bedarf es vorausschauender Planungen, um Krisen zu antizipieren und Sicherheitsnetze im Vorfeld aufzubauen. Drittens, alle diplomatischen Mechanismen müssen genutzt werden, um Verantwortliche für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zur Rechenschaft zu ziehen und den humanitären Zugang in Konfliktgebieten zu schützen und auszuweiten. Das Zeitalter der Straflosigkeit muss enden.

Gerade Zugangsbeschränkungen sind eines der am meisten unterschätzten Themen in der Unterstützung von Geflüchteten. 70% aller auf humanitäre Hilfe angewiesenen Menschen, das sind mehr als 200 Millionen, leben in Ländern, in denen der Zugang für humanitäre Hilfe extrem eingeschränkt ist. Hilfsorganisationen wie IRC werden aktiv daran gehindert, Menschen zu erreichen. Wir sehen dies in Jemen, wo komplette Häfen gesperrt sind, der Flugverkehr ausgesetzt ist. In Syrien, wo es systematische Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gibt. In der Ukraine, wo Evakuierungskorridore bombardiert und für den Export wichtige Häfen blockiert werden. Wir sehen dies in allen Krisenkontexten, in denen internationale Sanktionsregime keine ausreichenden Ausnahmen für die Arbeit von Hilfsorganisationen enthalten. Wenn wir diese Einschränkungen nicht beheben sowie Verbrechen gegen das Völkerrecht und Verstöße gegen die internationale Ordnung nicht ahnden, werden wir im nächsten Jahr einen neuen traurigen Spitzenrekord in der Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, verzeichnen.“