Während die Krise in Syrien in ihr dreizehntes Jahr geht, steigen die menschlichen Kosten, die mit mehr als einem Jahrzehnt des Konflikts und der Instabilität verbunden sind, weiter an.  Mehr als einen Monat, nachdem die schweren Erdbeben die Türkei und Syrien erschüttert haben, ist das verheerende Ausmaß der Krise in Syrien noch deutlicher geworden.  

Schon vor dieser jüngsten Tragödie waren etwa 15,3 Millionen Menschen – 70 Prozent der Bevölkerung des Landes – auf humanitäre Hilfe angewiesen. Trotzdem war 2022 die größte Finanzierungslücke für den UN-Hilfsplan für Syrien seit Beginn des Konflikts zu verzeichnen: Nur 49 Prozent des Bedarfs wurden im vergangenen Jahr finanziert, und mehr als 1,95 Mrd. Euro blieben ungedeckt.  

Diese Herausforderungen werden durch gezielte Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Personal noch verschärft. Gemeinsam mit Partnern hat IRC ein neuen Bericht veröffentlicht. ,,She Pays the Highest Price: The Toll of Conflict on Sexual and Reproductive Health in Northwest Syria" (Der Preis des Konflikts für die sexuelle und reproduktive Gesundheit im Nordwesten Syriens), zeigt wie der anhaltende Konflikt und die gezielten Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Fachpersonal die Krise im Nordwesten Syriens verschärfen und die Verfügbarkeit und den Zugang zu lebensrettenden SRH-Leistungen eingeschränkt haben. 

Tanya Evans, IRC-Landesdirektorin für Syrien, sagt: 

,,Ein weiteres Jahr und wir sind erneut mit einer Rekordzahl von Menschen in Not in Syrien konfrontiert. Doch obwohl sowohl der Bedarf als auch die Gefährdungen weiter zunehmen, hängt die Finanzierung hinterher. Der diesjährige UN-Hilfsplan für Syrien (2023 HRP) ist der größte humanitäre Appell weltweit. 4 Milliarden Euro werden benötigt, um allein den Bedarf zu decken, der bereits vor den verheerenden Erdbeben im vergangenen Monat bestand. Obwohl die enormen Summen sowohl das Ausmaß als auch die Lage für die syrische Bevölkerung widerspiegeln, ist der HRP 2023 derzeit nur zu 5 Prozent finanziert. 

Es ist jedoch nicht nur der Mangel an Mitteln, der in Syrien ein Problem darstellt, sondern auch die Frage, an wen sie gehen. Notsituationen wie das jüngste Erdbeben unterstreichen die entscheidende Rolle und die Handlungsfähigkeit nationaler Akteure. Unsere Teams und Partnerorganisationen im Nordwesten sind weiterhin mit der verheerenden Situation konfrontiert, in der sich Familien befinden, die seit mehr als zwölf Jahren einen Konflikt und eine Krise nach der anderen durchleben. Die internationale Gemeinschaft muss Solidarität mit den nationalen Akteuren zeigen, indem sie deren Zugang zu zusätzlichen und flexiblen Finanzmitteln sicherstellt."  

David Miliband, IRC Präsident und CEO, kommentiert:  

,,Die Schwierigkeiten, lebensrettende Hilfsgüter nach dem schweren Erdbeben im vergangenen Monat schnell und in großem Umfang in den Nordwesten Syriens zu bringen, zeigen wie wichtig ein dauerhafter und ungehinderter humanitärer Zugang zu Millionen von Syrer*innen ist. Sie haben zwölf Jahre Konflikt und eine einmalige Naturkatastrophe erlebt. Die jüngste Vereinbarung über die Öffnung der Grenzübergänge Bab Al-Salam und Al-Ra'ee im Nordwesten des Landes für die Vereinten Nationen hat die Hilfsbemühungen in einer Zeit größter Not erheblich erleichtert. Da dieses Abkommen jedoch im Mai und auch der grenzüberschreitende Mechanismus des UN-Sicherheitsrats kurz darauf im Juli ausläuft, ist die Bedrohung der grenzüberschreitenden Operationen erneut groß. Der letzte Monat hat nurmehr bestätigt, dass die grenzüberschreitende Hilfe die einzige praktikable Methode bleibt, um die Bedürftigen im Nordwesten nicht zurückzulassen.   

Dass der Fokus seit dem Erdbeben erneut auf Syrien liegt, bietet der internationalen Gemeinschaft jedoch eine entscheidende Gelegenheit, um ihre Reaktion auf die seit zwölf Jahren ungelöste humanitäre Krise in Syrien neu zu gestalten. Es ist völlig klar, dass wir die am stärksten betroffenen Menschen viel besser unterstützen müssen, damit der Kreislauf von Leid und Armut durchbrochen werden kann. In den kommenden Monaten wird es entscheidend sein, insbesondere Wiederaufbauprojekte zu finanzieren und gleichzeitig eine prinzipientreue Reaktion auf die zahlreichen Krisen in Syrien zu zeigen. Wir müssen die Lebensbedingungen derjenigen nachhaltig verbessern, die nach wie vor den schwersten Preis für einen Konflikt zahlen, den sie nicht selbst verursacht haben." 

Corina Pfitzner, IRC Deutschland Interim Geschäftsführerin, ergänzt:  

,,Die menschliche Not in Syrien und den Nachbarländern ist zu Recht seit vielen Jahren ein Schwerpunkt der deutschen humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Wir begrüßen ausdrücklich, dass in Reaktion auf das verheerende Erdbeben vor fünf Wochen zusätzliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden.  

Die Not in Syrien spüren wir auch hier in Deutschland. Syrien ist weiterhin an der traurigen Spitze der Herkunftsländer von Schutzsuchenden in Deutschland. Da die meisten von ihnen nur subsidiären Schutz erhalten, ist die Familienzusammenführung für sie – anders als für Flüchtlinge - erschwert. Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, sollte die Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten endlich mit Flüchtlinge gleichgestellt werden.  

Um vom Erdbeben in der Türkei und in Syrien betroffene Menschen noch besser zu unterstützen, sollte die Bundesregierung auch für syrische Staatsangehörige den erleichterten Zugang zu Besuchsvisa schaffen.”  

IRC ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf:  

IRC ist seit 2012 in Syrien im Nordwesten und Nordosten Syriens tätig. IRC ist in den folgenden Bereichen im Einsatz: Wirtschaftliche Integration inkl. Bargeldhilfe, Bildung, Schutz von Frauen und Kindern sowie Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt, und Gesundheitsdienste. Im Rahmen der Cholera-Bekämpfung stellt IRC wichtige Hilfsgüter für die Cholera-Prävention, -Kontrolle und -Behandlung bereit, schult klinisches Personal und kommunale Gesundheitshelfer*innen in der Erkennung, Behandlung und Überweisung von Fällen und leistet Aufklärungsarbeit in Sachen Gesundheit und Hygiene. IRC unterstützt auch syrische Geflüchtete in den Nachbarländern Libanon und Jordanien.