Neue Zahlen von International Rescue Committee (IRC) zeigen, dass allein in den letzten acht Monaten über 23.000 Menschen auf See auf dem Weg nach Europa abgefangen und nach Libyen geschickt wurden. Dies sind fast doppelt so viele Menschen wie im gesamten Jahr 2020 und die höchste Zahl seit Beginn der Abfangaktionen durch die libysche Küstenwache im Jahr 2017.

Die Zahl umfasst mehr als 1.000 Kinder und über 1.500 Frauen, von denen mindestens 68 schwanger waren. Nach Angaben von IRC wurden viele der Kinder als gefährdet eingestuft. Sie reisten beispielsweise allein oder getrennt von ihren Familien, litten unter einem hohen Maß an emotionaler Belastung, waren krank oder reisten mit Eltern, die medizinische Behandlung benötigten. Dennoch wurden fast alle Überlebenden in die berüchtigten libyschen Haftanstalten gebracht, obwohl dokumentiert ist, dass es in diesen Lagern regelmäßig zu Missbräuchen und massiven Menschenrechtsverletzungen kommt. Bereits 2017 hatte ein Bericht des Auswärtigen Amts von den „KZ-ähnlichen Verhältnissen“ in den libyschen Lagern gesprochen.

Als die libysche Küstenwache 2017 mit finanziellen Mitteln der EU begann, Boote abzufangen, wurden insgesamt 15.358 Menschen an Land zurückgebracht. Daraufhin ging die Zahl der aufgegriffenen Menschen erst deutlich zurück auf 9.000 Menschen im Jahr 2019, stieg dann aber wieder an auf 11.891 Menschen im Jahr 2020. Heute werden so viele Menschen wie nie zuvor nach Libyen deportiert, obwohl sie nach internationalem Seerecht an einen sicheren Ort gebracht werden müssten.

Tom Garofalo, IRC-Landesdirektor in Libyen:
„Die jetzt veröffentlichten Zahlen verdeutlichen den anhaltenden Ernst der Lage in Libyen. Ein Jahrzehnt der Gewalt und der Unruhen, eine angeschlagene Wirtschaft und die COVID-19-Pandemie haben die Herausforderungen für alle im Land lebenden Menschen noch verschärft. Heute sind schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen – ein Anstieg um 40 Prozent im Vergleich zu 2020.“

„Für Menschen auf der Flucht ist Libyen die Hölle. Sie sind ständigen Gefahren ausgesetzt, von Entführung über sexuelle Gewalt bis hin zu Folter. Oft sind sie bereits auf dem Weg nach Libyen von Schmugglern misshandelt und ausgebeutet worden. Aufgrund fehlender legaler Fluchtwege ist der Weg über das Mittelmeer oft die einzige Chance. Sie dann in Internierungslager zu stecken, wo Misshandlungen an der Tagesordnung sind, ist nicht nur eine Verletzung ihrer Menschenrechte, sondern auch unmenschlich. Die Bedingungen in diesen Einrichtungen sind dramatisch. Viele haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und sauberem Trinkwasser. Leibesvisitationen bei Frauen und Kindern, durchgeführt von Männern, sind an der Tagesordnung, Kinder sind in den Lagern Übergriffen schutzlos ausgeliefert.


IRC fordert, alle in Libyen willkürlich inhaftierten Personen sofort freizulassen, willkürliche Inhaftierungen zu beenden und die irreguläre Migration durch die libyschen Behörden zu entkriminalisieren. Darüber hinaus fordert IRC die EU auf, ihren Ansatz in der Migrationsfrage zu prüfen – insbesondere ihre Unterstützung für die libysche Küstenwache – und ihre eigenen Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer wieder aufzunehmen, um sicherzustellen, dass Überlebende an einem sicheren Ort an Land gehen. Libyen ist weder ein sicherer Hafen noch ein sicheres Land.