• Nach neuer Risikoanalyse muss mit bis zu einer Milliarde COVID-19-Infektionen in 34 der besonders fragilen Länder weltweit gerechnet werden

  • Zwischen 1,7 bis zu 3,2 Millionen Menschen könnten durch das Coronavirus sterben

  • Körperliche Distanz als Präventionsmaßnahme ist in vielen Konfliktregionen nicht möglich. Andere und an lokale Gegebenheiten angepasste Ansätze sind nötig, beschreibt ein neuer IRC-Bericht „One Size Does Not Fit All“ 

Eine neue Analyse von International Rescue Committee (IRC) zeigt, dass sich die Pandemie ohne rasche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid-19 in den kommenden Wochen weltweit katastrophal zuspitzen könnte: IRC rechnet in 34 fragilen Ländern, in denen die Hilfsorganisation arbeitet, mit bis zu 1 Milliarde Infektionen und 3,2 Millionen Todesfällen aufgrund von COVID-19. Zu den besonders gefährdeten Staaten gehören vor allem von Krieg und Krisen betroffene Länder wie Afghanistan, Syrien und Jemen.

„Diese Zahlen sollten als Weckruf dienen,“ erklärt David Miliband, Präsident und CEO von International Rescue Committee. „Das volle, verheerende Ausmaß dieser Pandemie ist in den fragilsten und kriegsgebeutelten Ländern der Welt noch nicht in vollem Umfang zu spüren. Wir befinden uns noch immer in einem kritischen Zeitfenster, das wir nutzen sollten, um in vielen dieser Länder robuste präventive Maßnahmen zu ergreifen. Noch können wir eine weitere weltweite Ausbreitung der COVID-19-Pandemie verhindern.“

Die von IRC erstellte Risikoanalyse basiert auf epidemiologischen Modellen und Daten des Imperial College London und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dabei werden sowohl Altersstruktur, Haushaltsgröße, soziale Kontaktmuster als auch die Sterblichkeitsmuster seit dem ersten Ausbruch der Krankheit in China berücksichtigt. Die von IRC ermittelten Schätzwerte für die 34 Länder, in denen die Organisation arbeitet, verdeutlichen das Ausmaß der Belastung durch eine Ausbreitung des Coronavirus für Krisen- und Konfliktregionen. Sie zeigen auch die immens wichtige Bedeutung von Sofortmaßnahmen für den weiteren Verlauf der Epidemie in den kommenden Wochen.

Nach ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Triebkraft von Faktoren wie Gesundheitszustand oder Altersstruktur einer Bevölkerung auf die COVID-19-Infektionsrate, muss von einer alarmierenden Entwicklung besonders für fragile Länder ausgegangen werden. Denn die Datenlage kann hier bestenfalls zu einer konservativen Schätzung führen. Das hat besonders folgende Gründe:

  1. Gesundheitskapazität und Virusreproduktionsrate (R0): Das ICL/WHO-Modell basiert auf Mortalitätsdaten aus China. Diese stehen in engem Zusammenhang mit der dort verfügbaren medizinischen Versorgung.  Fragile Staaten haben jedoch keine vergleichbaren Kapazitäten im Rahmen ihrer Gesundheitsversorgung. In Venezuela mussten inzwischen aufgrund der wirtschaftlichen und humanitären Krise mehr als die Hälfte der Ärzte das Land verlassen. 90% der Krankenhäuser beklagen einen akuten Mangel an Medikamenten und anderen wichtigen Versorgungsgütern. Auch die Lage in Flüchtlingslagern ist weltweit kritisch: Geflüchtete in Syrien, Griechenland und Bangladesch leben in den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt.  Die Lager Moria, Cox’s Bazaar oder Al-Hol sind bis zu 8,5-mal dichter besiedelt als das Kreuzfahrtschiff Diamond Princes, auf dem das Virus bis zu viermal schneller übertragen wurde als in Wuhan, China. Dies zeigt nicht nur, dass die Einhaltung körperlicher Distanz als Präventionsmaßnahme in diesen Kontexten nicht möglich ist. Auch der Mangel an grundlegenden Gesundheitskapazitäten lässt vermuten, dass das Virus sich in diesen Gebieten weitaus schneller verbreiten würde als aktuelle Prognosen vermuten lassen.
  2. Bestehende humanitäre Notlage: Die geschätzte Zahl der Toten berücksichtigt nicht die enorme Schwächung betroffener Gesellschaften aufgrund von Unterernährung, wirtschaftlicher oder politischer Instabilität. Hier entsteht deshalb ein „doppelter Notstand“: Während eine strikte Abriegelung und die Einhaltung körperlicher Distanz in wohlhabenderen Nationen Leben retten können, führen Maßnahmen wie die Schließung von Märkten in fragilen Staaten zu massiven Einkommensverlusten. Menschen, die nicht auf robuste soziale Sicherheitsnetze zurückgreifen können, laufen Gefahr, Opfer von Verarmung, Hunger und möglicherweise auch häuslicher Gewalt zu werden.
  3. Beeinträchtigung humanitärer Hilfslieferungen: Bewegungseinschränkungen und Unterbrechungen der Lieferketten beeinträchtigen bereits jetzt die Fähigkeit von Organisationen wie IRC, lebensrettende humanitäre Hilfe an Menschen in Not zu leisten. In manchen Ländern kann sich dies zu einer Katastrophe entwickeln. Beispiel: Südsudan. Hier gibt es lediglich vier Beatmungsgeräten und 24 Intensivstationen. Fast 65% der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.  Eingeschränkte Bewegungsfreiheit, wirtschaftliche Instabilität, der Rückgang landwirtschaftlicher Aktivitäten und bereits weit verbreitete Unterernährung sowie chronische Ernährungsunsicherheit können schnell zum Kollaps führen.

Es ist offensichtlich, dass die Auswirkungen von COVID-19 in von Krisen betroffenen Ländern besondere Maßnahmen erfordern. In dem jetzt veröffentlichten IRC-Bericht „One Size Does Not Fit All. Mitigating COVID-19 in Humanitarian Settings“ werden nicht nur die Risiken, sondern auch mögliche Lösungen beschrieben, die erforderlich sind, um COVID-19 in fragilen Umgebungen zu bekämpfen und eine Verschlimmerung von humanitären Notlagen zu vermeiden.

„Der Schlüssel liegt jetzt darin, dass Geber nun dringend flexible Finanzhilfen für diejenigen bereitstellen, die bereits vor Ort präsent sind, ihre Hilfsmaßnahmen schnell aufstocken und den Schwächsten sofort zu Gute kommen lassen können,“ fordert IRC-Präsident David Miliband. „Persönliche Schutzausrüstung und Tests müssen zur Verfügung stehen, die Isolierung aller Verdachtsfälle möglich, Isolierungseinheiten und Handwaschstationen vorhanden sein. Geber, Hilfsorganisationen und Regierungen müssen zusammenarbeiten, um Einschränkungen für humanitäre Hilfe zu beseitigen. IRC hat hier eine umfassende Strategie entwickelt, um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen und Patienten zu behandeln. Gleichzeitig werden dabei aber auch weitere gesundheitliche und wirtschaftliche Bedürfnisse der Menschen, die wir unterstützen, erfüllt und der besondere Schutz für Frauen und Mädchen wird ausgeweitet.“

IRC unterstützt im Rahmen des Einsatzes zur Eindämmung von COVID-19 besonders schutzbedürftige Menschen und Gemeinden. Priorität liegt dabei auch auf dem Schutz von IRC-Mitarbeiter*innen sowie der Fortsetzung lebensrettender Programme. IRC trägt durch sein Forschungs- und Innovationsteam auch dazu bei, kontextangepasste und kosteneffektive Lösungen für die Reaktion auf diese Pandemie zu entwickeln.