Ein Jahr nach dem Machtwechsel in Afghanistan hat der wirtschaftliche Zusammenbruch die Bevölkerung in eine Hungerkrise gestürzt, die auf eine Politik zurückzuführen ist, die die allgemeine Bevölkerung bestraft. IRC warnt, dass die derzeitige Krise weit mehr Afghan*innen das Leben kosten könnte als die vergangenen 20 Jahre Krieg.

Zwei Jahrzehnte lang war Afghanistan in hohem Maße von ausländischer Hilfe abhängig, die im letzten Jahr größtenteils ausgesetzt oder eingefroren wurde - mit erheblichen Auswirkungen auf das Wohlergehen der Afghan*innen im ganzen Land. Die Kürzung der Gelder für  Entwicklungszusammenarbeit in Verbindung mit der Einfrierung  von Vermögenswerten und dem Zusammenbruch des Bankensektors haben zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch geführt. Gleichzeitig haben die Zugangsbeschränkungen für Frauen zum Arbeitsmarkt zum wirtschaftlichen Niedergang Afghanistans beigetragen und einen Verlust von bis zu 1 Milliarde Euro verursacht - etwa 5% des afghanischen BIP. 

Die Folgen für die afghanische Bevölkerung  sind verheerend: Die Arbeitslosigkeit steigt rasant, Ernährungsunsicherheit  nimmt zu und zivilgesellschaftliche Strukturen zerfallen. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht von IRC zeigt, dass 77% der von Frauen geführten zivilgesellschaftlichen Organisationen in den letzten zwölf Monaten ihre Finanzierung verloren haben und die meisten ihre Aktivitäten einstellen mussten. Diese lokalen Organisationen sind von entscheidender Bedeutung für die Erbringung von Dienstleistungen für die am stärksten gefährdeten Gemeinschaften, insbesondere für Frauen und Kinder in ländlichen Gebieten. 

Vicki Aken, IRC-Landesdirektorin für Afghanistan, kommentiert:

"Ein Jahr nach dem Machtwechsel trägt die afghanische Zivilbevölkerung die Hauptlast einer dezimierten Wirtschaft und einer sich zuspitzenden humanitären Krise. Seit dem 15. August letzten Jahres sind die wichtigen internationalen Finanzmittel, mit denen die Grundversorgung in Afghanistan aufrechterhalten wurde, weitgehend eingestellt worden. Nach zwölf Monaten anhaltender wirtschaftlicher Krise ist die  Zahl der Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen, seit Anfang 2021 um ein Drittel gestiegen. Heute sind bereits 55% der afghanischen Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die Menschen sind arbeitslos, und das Land leidet Hunger. Ein Landwirt in der Provinz Nangarhar, der durch das “Cash for Work” Programm  von IRC unterstützt wird, hat seine Okra- und Reisernte in den letzten sechs Monaten mehr als verdoppelt, muss aber fast alles verkaufen, um über die Runden zu kommen. In der Zwischenzeit hat die sich verschärfende Wirtschaftskrise in Verbindung mit Zugangsbeschränkungen für Frauen zur Arbeitswelt, wie z. B. Kleidungsvorschriften und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, dazu geführt, dass fast alle von Frauen geführten Haushalte im Lande nicht in der Lage sind, ihre Familien zu ernähren. 

Während die führenden Politiker*innen der Welt versuchten, die Taliban wirtschaftlich zu isolieren, haben ihre politischen Ansätze die Wirtschaft lahmgelegt, den Bankensektor zerstört und das Land in eine humanitäre Katastrophe gestürzt, die dazu geführt hat, dass mehr als 24 Millionen Menschen täglich nicht genug zu essen haben. Und wenn eine Familie in Afghanistan hungert, sind die Frauen die letzten, die zu essen bekommen.

Die humanitäre Hilfe in Afghanistan ist drastisch unterfinanziert und liegt bei 44% des erforderlichen Betrags, es braucht dringend mehr Mittel. Aber humanitäre Hilfe kann kein Ersatz für eine funktionierende Wirtschaft sein. Die politischen Entscheidungsträger müssen mehr tun, um sicherzustellen, dass die afghanische Bevölkerung Zugang zum Lebensunterhalt und zu grundlegenden Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung hat. Die Sanktionen müssen behutsam gelockert werden und internationale Institutionen müssen dem Bankensektor technische Unterstützung gewähren, damit er wieder auf die Beine kommt. Ohne sinnvolle Unterstützung wird die derzeitige Krise weit mehr Afghan*innen das Leben kosten, als die vergangenen 20 Jahre Krieg."

Ralph Achenbach, IRC Deutschland Geschäftsführer, sagt: 

,,Die Wirtschaftskrise, die Afghanistan seit August 2021 erfasst hat, ist nun die Hauptursache für den Hunger und bedroht das Überleben von fast 20 Millionen Afghan*innen. 43% der afghanischen Bevölkerung lebt von weniger als einer Mahlzeit am Tag, die Verschuldung der Haushalte nimmt aufgrund der explodierenden Lebensmittelpreise zu und die Bevölkerung gibt inzwischen 90% ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Die Bevölkerung ist zunehmend gezwungen, auf verzweifelte Bewältigungsmechanismen zurückzugreifen und Berichte über Kinderheirat und -arbeit sowie den Verkauf von Organen häufen sich. Es wird erwartet, dass 97% der Bevölkerung in der zweiten Hälfte dieses Jahres deutlich unter der Armutsgrenze leben wird.  

Um eine humanitäre Katastrophe und die drohende Hungersnot im Winter abzuwenden, sollten die internationale Gemeinschaft und vor allem die deutsche Bundesregierung ihre finanziellen Zusagen für die humanitäre Hilfe erhöhen. Zudem sollte die Bundesregierung darauf hinwirken, dass insbesondere von Frauen geführte zivilgesellschaftliche Organisationen Zugang zu Fördermitteln erhalten. Sie haben oftmals den besten Zugang zu den am stärksten Betroffenen, wie zum Beispiel Frauen und Kinder.  

Doch humanitäre Hilfe allein wird nicht ausreichen, um die enormen Bedarfe zu decken.Die Welt kann es sich nicht leisten, wegzuschauen, während die Wirtschaft des Landes am Rande des Zusammenbruchs steht. Es müssen dringend Maßnahmen über humanitäre Hilfe hinaus ergriffen werden, um die Wirtschaft des Landes zu stabilisieren. Deutschland als Geberregierung muss hier als Vorbild wirken. Darüberhinaus brauchen wir ein stärkeres Engagement was die Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan und ihre Integration in Deutschland betrifft.”

In den letzten zwölf Monaten hat IRC das Engagement für die afghanische Bevölkerung verdoppelt. IRC-Teams sind in 12 Provinzen im Einsatz und bieten lebenswichtige Gesundheitsdienste, Bildung und Unterstützung für Frauen und Mädchen in Gemeinden, in denen wir enge Beziehungen zu den Führungspersonen der Gemeinden aufgebaut haben. IRC setzt sich auch für die Einbeziehung von Frauen in die humanitäre Hilfe ein: Die Teams von IRC Afghanistan haben einen Anteil von mindestens 40% afghanischer Frauen.

IRC-Teams erreichen derzeit abgelegene Bezirke, die für humanitäre Akteure jahrzehntelang aufgrund der Sicherheitslage unerreichbar waren. In Helmand liefert IRC lebenswichtige medizinische Versorgung, gemeindebasierte Bildungsprogramme und Cash for Work in Gebiete, die zuvor durch Kämpfe abgeschnitten waren. Dank des verbesserten Zugangs konnte IRC auch in einigen der abgelegensten Dörfer, die von dem Erdbeben in den ländlichen Gebieten von Paktika und Khost betroffen waren, medizinische Nothilfe leisten. 

Fallstudien sowie Foto- und Videomaterial zu den IRC-Programmen in den Provinzen Khost, Logar, Laghman und Nangarhar finden Sie hier.

 

IRC ruft zu fünf Forderungen auf, um öffentliche Dienstleistungen und humanitäre Hilfe zu ermöglichen:

  1. Stärkung der afghanischen Wirtschaft und Sicherstellung der Grundversorgung: Finanzielle Mittel für den Treuhandfond für den Wiederaufbau Afghanistans (ARTF) der Weltbank zur Unterstützung der Basisdienstleistungen für die Grundversorgung müssen zugesichert werden. Die deutsche Bundesregierung sollte hier mit gutem Beispiel vorangehen. Außerdem  sollten internationale und lokale NRO in der Governance Struktur und in den Arbeitsgruppen des ARTF eine elementare Rolle erhalten, um sicherzustellen, dass die Unterstützung bedarfsgerecht eingesetzt wird. 
  2. Finanzielle Unterstützung: Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass der von der UN ermittelte finanzielle Bedarf für humanitäre Hilfe vollständig gedeckt ist. Zudem sollte sie sicherstellen, dass die Mittel schnell eingesetzt werden können. 
  3. Rechtliche Unterstützung: Die Geberregierungen sollten mehr öffentliche, proaktive und vorausschauende Rechtsberatung anbieten, um die abschreckende Wirkung von Sanktionen auf private Akteure entgegenzuwirken, unter anderem durch Bemühungen, Finanzinstitute zu ermutigen, sich in Afghanistan zu engagieren.  
  4. Unterstützung von Frauen geführte zivilgesellschaftliche Organisationen: Die Bundesregierung sollte sicherstellen, dass von Frauen geführte zivilgesellschaftliche Organisationen Zugang zu flexiblen finanziellen Zuschüssen haben und sie dahingehend unterstützen, dass sie die Voraussetzungen für die Annahme von Mitteln erfüllen. Zudem muss weiterhin darauf geachtet werden, dass Frauen aus der lokalen Zivilgesellschaft Positionen auf allen Ebenen bei den Partnern der humanitären Hilfe erhalten.  
  5. Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan: Die Bundesregierung muss die Aufnahme von gefährdete Afghan*innen und ihre Integration in der deutsche Gesellschaft unterstützen. Das von der Bundesregierung angekündigte Bundesaufnahmeprogramm muss endlich umgesetzt werden. Gefährdete Afghan*innen wie Menschenrechtsverteidiger*innen oder Angehörige von Minderheiten müssen so schnell und so unbürokratisch wie möglich Aufnahmezusagen erhalten und bei der Reise nach Deutschland unterstützt werden.