Im Zuge der COVID-19-Pandemie zeichnen sich in Kriegs- und Krisenländern besorgniserregende Trends ab, die auf eine Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt schließen lassen. Die Ausgangssperren und andere Maßnahmen, die zur Eindämmung des Virus den direkten Kontakt zwischen Menschen unterbinden sollen, isolieren Frauen und führen in vielen humanitären Notlagen dazu, dass lebensrettende Schutzprogramme ausgesetzt oder zumindest stark eingeschränkt werden.

Eine neue Analyse von Daten aus weltweiten Programmen von International Rescue Committee (IRC) zeigt deutliche Unterschiede zu den Vorjahren – in manchen Ländern sind die Zahlen der berichteten Fälle stark angestiegen, in anderen sind sie stark zurückgegangen, weil die Frauen kaum noch Möglichkeiten haben, Hilfe zu suchen.

"Wir wissen, dass es in Krisen immer zu einem Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt kommt“, sagt Nicole Behnam, IRC-Senior Director für den Bereich „Violence Prevention and Response“.  Aufgrund der derzeitigen Ausgangssperren hätten Menschen, die mit den Tätern geschlechtsspezifischer Gewalt zusammenlebten, noch weniger Möglichkeiten, Hilfe zu suchen. „Dass Frauen, die unsere Unterstützung brauchen, nun weniger Übergriffe melden, ist herzzerreißend. Es ist ja nicht so, dass es weniger Gewalt gibt. Stattdessen leben schutzbedürftige Frauen nun in noch größerer Gefahr – das gilt vor allem in Kriegs- und Krisenländern,“ so Behnam.

Im Rahmen der Analyse wurden Daten aus IRC-Programmen zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt in Zusammenhang mit jeweils lokalen COVID-19-Maßnahmen untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass insbesondere Isolationsmaßnahmen bedrohliche Auswirkungen für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen haben.

In Ländern, in denen Programme unterbrochen wurden, und persönliche Beratungsangebote durch telefonische bzw. andere technologiebasierte Angebote ersetzt werden mussten gibt es keine oder nur sehr wenige Meldungen von betroffenen Frauen.

Diese Daten machen deutlich, dass Unterstützungsangebote aus der Distanz – zum Beispiel durch eine Telefonhotline oder eine virtuelle Beratung zwar von großer Bedeutung sind. In vielen Ländern haben Frauen und Mädchen jedoch nur einen begrenzten Zugang zu dieser Technologie: Sie besitzen kein Endgerät; es fehlt eine Internetverbindung; es gibt keine Privatsphäre, die es Frauen ermöglicht, über  gewaltsames Verhalten im gleichen Haushalt zu sprechen.

In Ländern, in denen weniger strenge Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung der COVID-19-Krise herrschen, hat IRC dagegen eine Zunahme von Hilfegesuchen registriert.

Am häufigsten berichten Frauen und Mädchen über Gewalt durch Intimpartner. Experten befürchten, dass auch die Früh- und Zwangsverheiratung von Mädchen im Zuge der wirtschaftlichen Rezession zunehmen wird.

„IRC ist der Schutz von Frauen und Mädchen seit jeher besonders wichtig“, erklärt IRC-Expertin Nicole Behnam. „Deshalb passen wir unsere Schutzprogramme auch während der Corona-Pandemie fortlaufend an die neuen Herausforderungen an. Wir müssen dafür sorgen, dass Frauen und Mädchen nicht den gewalttätigen Auswirkungen von COVID-19 zum Opfer fallen.“

IRC hat Programme zum Schutz von Frauen und Mädchen soweit angepasst, dass verfügbare Schutzräume trotz Corona-Beschränkungen offengehalten werden können. Unter Berücksichtigung aller geltenden Hygieneschutz-Maßnahmen werden auch weiterhin Empowerment-Programme umgesetzt. Dabei wird die psychische und psychosoziale Betreuung von betroffenen Frauen und Mädchen auch durch neue technologiebasierte Angebote unterstützt. Um diese Arbeit fortführen zu können, werden dringend weitere finanzielle Mittel benötigt. IRC fordert Regierungen, darunter auch die Bundesregierung auf, Schutzprogramme für Frauen und Mädchen durch bilaterale Finanzierung weiterhin zu unterstützen. Im Bereich der humanitären Hilfe muss die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt priorisiert und mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet werden.