Eine neue Analyse von International Rescue Committee (IRC) kommt zu dem Ergebnis, dass 15 Millionen von geschlechtspezifischer Gewalt (Gender-Based Violence, GBV) Betroffene derzeit keinen Zugang zu entsprechenden Hilfsangeboten haben. Dies betrifft hauptsächlich Frauen und Mädchen. Obwohl die Anzahl der eingereichten Förderanträge für GBV-Programme von 2020 auf 2021 leicht gestiegen ist, deckt die beantragte Fördersumme nur drei Prozent des tatsächlichen Bedarfs, um Betroffene angemessen zu unterstützen. Demnach stehen weniger als 11 US-Dollar pro unterstützungsbedürftiger Person zur Verfügung. Als Grundlage für die Berechnung dienen humanitären Projektpläne für das Jahr 2021 von zehn Ländern. 

Die COVID-19-Pandemie hat eine „Schattenpandemie“ geschlechtsspezifischer Gewalt ausgelöst: Mit den Folgen der Pandemie geht ein Anstieg der Gewalt gegen Frauen einher. Wie die nun veröffentlichten Zahlen zeigen, wuchs die Finanzierung für GBV-Projekte nicht entsprechend des Bedarfs – oder entsprechend der Finanzierungsanfragen zur Bekämpfung der Auswirkungen von COVID-19. Im Durchschnitt stiegen die Finanzierungsanfragen für humanitäre Projekte in von Konflikten und Krisen betroffenen Ländern um mehr als 19 Prozent. Die GBV-spezifischen Finanzierungsanfragen stiegen dagegen nur um 0,9 Prozent. Drei der zehn analysierten Länder verzeichnen sogar einen Rückgang der Finanzierungsanfragen für GBV-Projekte.

Nicole Behnam, Senior Director for Violence, Prevention and Response, International Rescue Committee, erklärt:

„Obwohl COVID-19 zu einem verstärkten öffentlichen Bewusstsein darüber geführt hat, dass Frauen und Mädchen in vielfacher Hinsicht von einer Krise betroffen sind, wird geschlechtsspezifische Gewalt in der Förderung nicht angemessen berücksichtigt. In einigen Fällen sehen wir, dass ohnehin begrenzte Ressourcen mit Hinweis auf COVID-19 in andere Bereiche umgeleitet werden. Wir sind besonders besorgt darüber, dass bei einem insgesamt steigenden Bedarf an humanitärer Hilfe Frauen und Mädchen immer weniger Unterstützung erhalten. Programme gegen geschlechtsspezifische Gewalt haben in der Praxis immer noch keine Priorität.“

Zu den Auswirkungen von COVID-19 für Frauen und Mädchen zählen u.a. der Anstieg von geschlechtsspezifischer Gewalt und die Belastung durch zusätzliche unbezahlte Betreuungsarbeit. Auch haben mehr Frauen als Männer ihren Arbeitsplatz verloren. 20 Millionen Mädchen laufen Gefahr, nach der Pandemie nicht mehr zur Schule zu gehen. Dennoch werden Frauen und Mädchen in den Plänen zur Bekämpfung der Auswirkungen von COVID-19 nur unzureichend berücksichtigt. Das liegt auch daran, dass Frauen bei der Ausarbeitung und Umsetzung solcher Pläne oft unterrepräsentiert sind.

Ein in Kürze erscheinender Bericht des Feminist Humanitarian Network, dem auch IRC angehört, kommt zu dem Schluss, dass Frauen und Frauen-Organisationen gezielt daran gehindert wurden, eine führende Rolle in den entsprechenden Entscheidungsprozessen zu übernehmen. Die Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen des politischen Prozesses ist nicht nur für die Bekämpfung von COVID-19, sondern auch für den Aufbau besserer, inklusiverer Gesellschaften entscheidend. Frauen, die in ihren Gemeinden Führungspositionen innehaben, müssen eine Plattform und die notwendigen Ressourcen erhalten, um ihren Anliegen und Ideen Gehör zu verschaffen.

G7 muss Problem benennen

Der bevorstehende G7-Gipfel bietet eine Gelegenheit für die wichtigsten Industrienationen, sich zur Gleichstellung der Geschlechter in humanitären Kontexten zu bekennen und Frauen den Zugang zu COVID-19-Impfstoffen und sozialen Sicherheitsnetzen zu ermöglichen. Frauen mit Fluchthintergrund in den G7-Beirat für Geschlechtergleichstellung aufzunehmen, wäre [CS1] ein konkreter Schritt, um ihre Perspektiven einzubeziehen. Hochrangige diplomatische Treffen können die Lage in den Ländern des Globalen Südens jedoch nur bedingt beeinflussen. Um dauerhafte und sinnvolle Veränderungen zu bewirken, sollten Regierungen ihre Partnerschaften mit lokalen Frauenorganisationen, die Frauen und Mädchen direkt erreichen und stärken, massiv ausbauen und sicherstellen, dass mindestens 25 Prozent ihres Hilfsbudgets lokale Organisationen erreichen.