Erinnerungen sind Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Geschichten darüber, wer wir sind und warum wir so sind. Manche dieser Geschichten erzählen wir uns so oft, dass sie Teil unseres Alltags werden – egal wie viele Jahre vergangen sind.

Frauen*, die Krieg erlebt haben, ihr Zuhause verlassen mussten, eine Flucht bewältigt haben und sich in Deutschland trotz aller Widrigkeiten ein neues Leben erkämpft haben, bringen viele Geschichten und Erinnerungen mit. Präsent ist hierzulande jedoch meist nur eine: Die der Flucht und des Krieges, die Geschichte einer Frau*, die hilfebedürftig ist, einer Frau*, die Mitleid erregt. Diese Geschichte wird immer und immer wieder erzählt und festigt in unserem Kopf ein Bild der geflüchteten Frau*, das einseitig und verzerrt ist. Ein Bild, das Menschen zu ewigen Geflüchteten macht, keinen Raum für andere Facetten lässt und das der Realität nicht im Ansatz gerecht wird.

Das Projekt "No Single Stories!" schafft Räume, in denen Frauen* alle Geschichten erzählen, die sie erzählen möchten, sich nicht auf eine Erfahrung ihres Lebens beschränken, sich gegenseitig bestärken, einander zuhören und mit Selbstbewusstsein an das Mikrofon treten, um zu sagen, was sie sagen wollen. Hier werden Geschichten so erzählt, wie sie erinnert werden. Wie die Frauen sie hören, sie erzählen möchten.

Kajaw Ahmed Mohamed ist Workshopleiterin bei "No Single Stories!". Die junge Frau begleitet die Teilnehmerinnen* der "No Single Stories!" - Workshops. Sie sorgt dafür, dass eine vertrauensvolle Atmosphäre entsteht, schafft Anreize, die Geschichten sprudeln lassen und hält die Waage zwischen der Schwere und der Leichtigkeit unserer Erinnerungen. Kajaw weiß genau, worum es hier geht.

Sie hat erlebt, was viele der Teilnehmerinnen* in verschiedenen Formen erlebt haben. Sie schreibt seit Jahren selbst und gemeinsam mit ihrer Tochter an einem eigenen Buch. Und sie zieht Menschen in den Bann. Sie lässt sie teilhaben an ihrem Leben, spricht offen Fragen aus, die sie beschäftigen und sie lässt Menschen Raum, selbst zu sprechen und Themen aufzuwerfen. Sie ist politisch, pocht auf Gerechtigkeit und kämpft Konflikte aus – das alles mit einer Empathie, die begeistert und einem Lächeln, das mitreißt.

Kajaw trägt unendlich viele Geschichten in sich. Eine davon geht so:

Liebe Mama,

ich hätte das folgende Gespräch gerne mit dir geführt, aber das geht nicht. Also tun wir einfach so, als wäre die Realität eine andere und wir könnten doch so offen reden.
Ich muss erstmal eines klar stellen: wenn ich mit dir spreche, spreche ich nicht dich als Person an, sondern dich als Vertreterin einer Gesellschaft, einer Epoche, als Vertreterin der herrschenden kulturellen Ansätze, die Opfer produzieren, männliche und weibliche, als Vertreterin von Erziehungsmethoden, die die einen zum Täter und die anderen zum Opfer werden lassen.

Ich möchte dich anrufen und dir sagen, wie dankbar ich dir dafür bin, dass du mich so oft ungerecht behandelt hast - im Gegensatz zu meinem großen Bruder. Denn damit hast du meinen Gerechtigkeitssinn geschärft.
Als wir uns stritten, schlug er mich. Als ich mich an dich wandte, sagtest du: „Es ist ja dein Bruder. Viele Brüder schlagen ihre Schwestern.“
Ich spürte, dass du unsicher warst, keine Lösung für diese Situation hattest, zwischen uns hin und her gerissen warst... Mit der Aussage hast du es auf die Art gelöst, die für dich am einfachsten war und indem du sagtest: „Es ist doch nicht schlimm, wenn er dir einen Tritt in den deinen Hintern verpasst! Es ist ja nur ein Tritt!“
Bis heute vergesse ich den Moment nicht, wie deine Stimme war, dein Gesichtsausdruck, ja sogar wie es in eurem Schlafzimmer roch, der Bühne dieser Szene. Wenn ich deine Stimme heute höre, sehe ich vor meinen Augen diese und viele ähnliche Szenen wie einen Film.

Dieser eine Tritt war für mich ein Antrieb. Antrieb, um meine Zukunftspläne zu schmieden. Meine Gedanken zeichneten mir eine bunte Welt, die für mich allein war und in der ich allein war. Jede weitere Szene, jeder Konflikt, jede Auseinandersetzung bedeutete für mich einen weiteren Schritt in meiner Zukunft. Und jeder Angriff, jede Ungerechtigkeit war für mich die Legitimation meiner Pläne.
War das Resilienz?
Hoffnung haben, Ziele formulieren, lösungsorientiert sein...

Ich würde dich gerne jetzt anrufen und dir sagen, dass du, als meine Mutter, mich nicht geschützt hast. Ich hatte das Gefühl, dass du mich nicht lieb hattest. Ich frage mich immer wieder, warum du so warst. Und ob du überhaupt Schuld trugst? Oder waren es die Gesellschaft, die Traditionen, die Gesetze…?
Warum versuche ich überhaupt, jemandem die Schuld zu geben?

Zum Glück hatte ich meinen Vater. Der hat mich geschützt. Er lieferte die Antworten zu all den Fragen, die du aufwarfst.
Und heute? Brauche ich dir das nicht mehr sagen. Was vorbei ist, ist vorbei.

Geblieben ist: ein großen Riss in meiner Seele.
Geblieben ist: mein Gerechtigkeitssinn.
Geblieben ist: Das Bewusstsein, dass ich, hätte ich einen Sohn und eine Tochter, beide gerecht behandeln würde.
Geblieben ist: Ein geschieht dir Recht. Wenn du manchmal von meinem Bruder erzählst, wie er dich so ungerecht und unhöflich behandelt. Du hast in ihn investiert, du hast dich auf seine Seite gestellt.
Geblieben ist: Papa auf meiner Seite.

 

In Deutschland setzt sich Kajaw für Frauenrechte, gegen Rassismus und Unterdrückung ein. Ihre Geschichte erzählt von der Macht bestimmter Konventionen in einer Gesellschaft und von Menschen, die sie geprägt haben: jenen, die den Konventionen erlegen waren und jenen, die sich diesen widersetzt haben: „Ich habe festgestellt, dass es mir gar nicht darum geht, meine Mutter, meinen Bruder oder meinem Vater als Person zu verurteilen, sondern die gesellschaftlichen Normen dahinter. Man sieht in dem Moment selbst nur diese Person – aber man muss da differenzieren, denn die Person trägt die Prägung der Gesellschaft und ist selbst Opfer der herrschenden Normen geworden.“ Sie macht eine kurze Pause und spricht dann schnell weiter, um deutlich zu machen, was ihr am Herzen liegt: „Wenn man als Migrantin*, als Frau*, als Mutter hier in Deutschland ankommt, braucht man unendlich viel Resilienz, um von Null anzufangen, auf eigenen Beinen zu stehen. Man muss die Sprache lernen, gegen Vorurteile und Rassismus kämpfen, Kinder erziehen, sich eine Arbeit suchen, nach vorne schauen und Hoffnung haben. Wie viele Kompetenzen und Stärken sind da in uns, dass wir das schaffen, weitermachen und am Leben sind?“ 

Kajaw bringt es auf den Punkt. Wie viele der anderen Frauen* in den Workshops. Wir wollen dazu beitragen, dass ihre Geschichten geteilt werden und ihre Anliegen in der Gesellschaft nachhallen. Zum Ende des Projekts soll deshalb ein Buch entstehen, dass die Geschichten der Frauen* vereint. Mehr Informationen zum Projekt "No Single Stories!

Das Projekt "No Single Stories!" wird durch das Bundesministerium des Innern für Bau und Heimat gefördert.