Das Coronavirus hat unser Leben grundlegend verändert. Fast überall auf der Welt sorgt die Pandemie für Verzicht, wenn nicht gar existentielle Not. Doch das ist nicht alles. COVID-19 führt auch zu einer Schattenpandemie: häusliche Gewalt – Angriffe und Misshandlungen, die sich hinter verschlossenen Türen abspielen und die überwiegend gegen Frauen und Kinder gerichtet sind. Diese Erfahrung hat IRC nicht nur während der Ebola-Epidemie gemacht. Bei COVID-19 verhält es sich ähnlich. Experten warnen: Alle drei Monate, die der „Lockdown“ –also die persönliche Kontaktsperre –anhält, müssen wir mit 15 Millionen neuen Fällen von häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt rechnen.

Aus Angst unter Quarantäne gestellt

Man könnte meinen, die Erde dreht sich langsamer: Geschäfte und Schulen, Transportwege, Büros und Fabriken, Versammlungsplätze, Einrichtungen zur Freizeitgestaltung –fast alles unterliegt Einschränkungen oder wurde gleich ganz geschlossen. Das hat verhängnisvolle Auswirkungen. Lehrer, Nachbar*innen, Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen von sozialen Einrichtungen sind wichtig, wenn es darum geht, möglichen Missbrauch zu erkennen und zu melden. Angesichts bestehender Ausgehbeschränkungen sind diese Kontakte nicht mehr möglich. Stattdessen sitzen Frauen und Kinder mit ihren Peinigern auf engstem Raum fest und haben weniger bis keine Möglichkeit, Hilfe zu suchen. Ein Überblick:

Eine freiwillige Helferin pflanzt im IRC-Frauenzentrum im Flüchtlingslager bei Cox's Bazar in Bangladesch Blumen
Eine freiwillige Helferin pflanzt im IRC-Frauenzentrum im Flüchtlingslager bei Cox's Bazar in Bangladesch Blumen. Seit Beginn der Pandemie fällt es Frauen hier aufgrund von Ausgangsbeschränkungen viel schwerer, Missbrauch zu melden.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

In Deutschland drohen nach Angaben des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) insbesondere in den Städten verstärkt Fälle von häuslicher Gewalt. Die Anzeigen in Berlin sind beispielsweise um 10 Prozent gestiegen. Die Hotline „Nummer gegen Kummer“ registrierte 20 Prozent mehr Anrufe. Nicht unerwartet, aber besorgniserregend: Die Meldungen zu Gewalt gegen Kinder sind gesunken.

In einigen IRC-Einsatzländern ist die Zahl der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt dramatisch gestiegen. In El Salvador zum Beispiel berichten unsere Partnerorganisationen, dass seit Beginn der Pandemie 70 Prozent mehr Frauen bestehende Hotline-Dienste in Anspruch genommen haben. In vielen anderen Ländern, ist die Zahl der gemeldeten Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt jedoch zurückgegangen. Dort ist der Zugang zu diesen Diensten für Überlebende und gefährdete Personen schwieriger geworden. In Irak erhielt unser Team im März und April dieses Jahres so gut wie keinen Anruf. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum des Vorjahres wurden 70 Fälle gemeldet – mindestens einer pro Tag. In Bangladesch gab es im März im Vergleich zum Vormonat nur halb so viele gemeldete Fälle, in Tansania war es ein Drittel weniger. Unabhängig der gemeldeten Fälle müssen wir davon ausgehen, dass die Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen zu mehr häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt führen. 

Rohingy-Frau mit Baby im Flüchtlingslager Cox's Bazar
Eine Frau hält ihr Baby im Flüchtlingslager bei Cox's Bazar in Bangladesch. Hier gibt es hohe Gewaltraten gegen Frauen.
Foto: Habiba Nowrose/IRC

Nicole Behnam, leitende Direktorin für Gewaltprävention und -reaktion bei IRC, erklärt: „Durch Abriegelungen sind Menschen, die mit ihrenTätern isoliert werden, einem höheren Risiko ausgesetzt. Sie haben weniger Ressourcen zur Verfügung und sind nicht in der Lage, selbst Hilfe zu suchen. Dieser Rückgang bei den Meldezahlen ist herzzerreißend. Er bedeutet. ja nicht, dass die Gewalt zurückgeht. Er bedeutet, dass gefährdete Frauen ihre letzte verbliebene Unterstützung verloren haben.“

Programme anpassen, um Leben zu retten

IRC passt deshalb alle relevanten Programme an, um sicherzustellen, dass wir auch weiterhin gefährdete Frauen und Kinder unterstützen können. Dort, wo IRC-Mitarbeiter*innen keinen Zugang mehr zu den Flüchtlingslagern haben, hat IRC freiwillige Helfer*innen per Telefon geschult. Sie sollen erste Anlaufstelle für Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt sein und auf die Dienste, die wir virtuell oder per Telefon anbieten, aufmerksam machen. In vielen unserer Einsatzländer–von Jordanien bis Uganda–bieten wir spezielle Hotlines an.

Rawan, IRC-Koordinatorin für den Schutz und das Empowerment von Frauen, arbeitet in Erbil, Irak. „Es gab viele Fälle im ganzen Land“, erklärt die junge Frau. „Das macht uns definitiv große Sorgen. Unsere Einrichtungen wurden aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen. Also überlegten wir: Wie können wir uns auf die neue Situation einstellen und dafür sorgen, dass wir trotzdem die Frauen erreichen können? Wir organisieren jetzt einzelne Besuche, gehen von Zelt zu Zelt, stellen sicher, dass wir den notwendigenAbstand halten und Schutzkleidung tragen. Wir versuchen, das Bewusstsein der Frauen und Mädchen hier zu schärfen und wollen vor allem zuhören. Denn das ist der wichtigste Teil: sicherstellen, dass die angepassten Programme den Bedürfnissen der Frauen und Kinder entsprechen.

Wo immer möglich, halten IRC-Mitarbeiter*innen Zentren für Frauen und Kinder offen. Dafür wurden auch Anpassungen vorgenommen wie z.B. die Installation von Handdesinfektionseinrichtungen oder die Reduzierung von Teilnehmerzahlen. Wo früher 50 Frauen gleichzeitig durch die Tür kamen, betreten jetzt nur noch vier auf einmal den Raum. „Wir haben dafür eng mit den Frauen zusammengearbeitet, um zu verstehen, welche Tageszeiten für sie funktionieren und welche Auswirkungen die Anpassungen für sie haben.

Portrait von Frauenrechtsaktivistin Jemimah Sadia
Jemimah Sadia gründete im Lager Bidi Bidi in Uganda eine Frauenrechtsaktivistengruppe. IRC unterstützt jetzt aus der Ferne durch Telefongespräche.
Foto: Esther Mbabazi/IRC

Beratung und Fallmanagement ist maßgeblich fürÜberlebende, damit sie ihr Leben wieder selber in die Hand nehmen können. In einigen Ländern tun wir dies auch weiterhin im persönlichen Austausch, z.B. in Tansania, wo der Infektionsschutz unter anderem durch die Einhaltung von Abstandsregeln umgesetzt werden kann. Wo dies nicht möglich ist, bieten wir den Betroffenen auf telefonischem Weg psychologische Unterstützung an.Dabei arbeiten wir manchmal auch direkt mit Gesundheitsdienstleistern zusammen. In Côte d'Ivoire haben wir dafür medizinisches Personal geschult, damit es während der COVID-19-Pandemie Überlebende sexualisierter Gewalt identifizieren und unterstützen kann. In Libanon versuchen wir sicherzustellen, dass Kinder zu Hause sicher sind–zum Beispiel durch telefonische Kontaktaufnahme zu den Eltern. 

Mutter und Sohn in einer Notunterkunft in Aden, Jemen
Nadia Mohammed Fadhl und ihr Sohn Abdullah sitzen in ihrer Notunterkunft in Aden, Jemen. Vertriebene Frauen wie Nadia sind bezüglich häuslicher Gewalt und Missbrauch besonders gefährdet.
Foto: Will Swanson/IRC

Aber es bleibt noch einiges zu tun. Viele Frauen, die wir unterstützen, haben keinen Zugang zu einem Telefon oder wissen nicht, dass es Hotlines gibt, bei denen sie Hilfe erhalten. IRC bemüht sich um mehr finanzielle Mittel, damit Programme umgesetzt werden können, durch die digitale Kompetenz von schutzbedürftigen Menschen gestärkt werden kann.

Vorbereitung auf die Zukunft

Irgendwann werden die Ausgangs- und Kontaktsperren wieder aufgehoben. Wenn es soweit ist, erwarten wir einen enormen Anstieg von Fallzahlen: Misshandlungen, die von den Frauen gemeldet werden, die endlich wieder aus dem Haus gehen können. IRC bereitet sich darauf vor. Es wird eine Herausforderung sein. Aber wir geben nicht auf. Wir wissen, dass unsere Unterstützung für Betroffene von häuslicher Gewalt überlebenswichtig ist.