Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 arbeitet International Rescue Committee (IRC) mit lokalen Organisationen in Polen, der Ukraine und Moldawien zusammen. Dabei stellen wir sicher, dass wir vom Konflikt Betroffene mit den Dienstleistungen erreichen, die sie am dringendsten benötigen.

Einer dieser Partner ist das polnische Unternehmen Migam, das rund um die Uhr Videodolmetschen und Unterstützung für Geflüchtete anbietet, die zu den 72 Millionen Menschen gehören, die Gebärdensprache verwenden. Seit dem Beginn des Programms Anfang März hat Migam mehr als 9.100 Dolmetschungen geleistet, was sich auf mehr als 1.214 Stunden beläuft.

Oleksii Zelinskyi ist 33 Jahre alt und selbst gehörlos. Roman Zadaniuk ist 47 Jahre alt. Beide sind Dolmetscher bei Migam und unterstützen Geflüchtete in allen Bereichen, von alltäglichen Aufgaben bis hin zu komplexen rechtlichen und gesundheitlichen Fragen. Erfahrt hier mehr über ihre Arbeit und die Herausforderungen, mit denen gehörlose Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten, konfrontiert sind.

Anmerkung: Das Interview mit Roman wurde ursprünglich auf Polnisch geführt, das mit Oleksii in ukrainischer Gebärdensprache. Beide Interviews wurden zur besseren Verständlichkeit bearbeitet und gekürzt.

Wie sind Sie zu dieser Arbeit gekommen?

Oleksii: Ich wusste, dass ich als ukrainischer und polnischer Gebärdensprachdolmetscher in der einzigartigen Lage war, gehörlosen Menschen zu helfen, die vor dem Krieg in meinem Heimatland fliehen. Ich kam zu Beginn des Krieges in der Ukraine zu Migam und unterstütze seither gehörlose Geflüchtete mit Dolmetschen.

Roman: Vor dem Krieg half ich einem Freund, einem Polizisten, beim Dolmetschen der Gebärdensprache. Er schlug mir vor, nach Organisationen zu suchen, die Hilfe beim Dolmetschen der ukrainischen Gebärdensprache brauchten. Bis zum Ausbruch des Krieges gab es dafür keinen großen Bedarf. Als der Konflikt begann, kontaktierte mich Migam und seitdem arbeite ich mit ihnen zusammen.

Oleksii hilft gehörlosen ukrainischen Geflüchteten, indem er per Videoanrufe in die Gebärdensprache dolmetscht.
Foto: Karolina Jonderko/IRC

Wie wirkt sich der Krieg auf gehörlose Menschen in der Ukraine aus?

Oleksii: Der Krieg stellt die Gehörlosen vor große Herausforderungen. Zum Beispiel können wir die Sirenen bei Luftangriffen nicht hören. Im Februar erfuhr ich von einem gehörlosen Mädchen, das die Sirenen im Schlaf nicht hörte. Als ihre Mutter versuchte, sie zu wecken, konnte das Mädchen nicht glauben, was passiert war.

Die ukrainische Gehörlosengemeinschaft ist besonders gefährdet, lebensrettende Alarme nicht mitzubekommen und hat nicht denselben Zugang zu bestimmten Berichten oder Warnungen wie die hörende Gemeinschaft.

Roman: Ich führte einen Videoanruf mit einem gehörlosen Freund, der in der Ukraine einkaufen war, als die Alarme losgingen. Er konnte sie nicht hören und ich musste ihm sagen, er solle sich einen Unterschlupf suchen! 

In einem anderen Fall beschloss ein gehörloses Paar mit seinen beiden Kindern aus der Stadt Cherson zu fliehen. Aufgrund der Besetzung der Stadt durch russische Truppen hatte die ukrainische Regierung allen verboten, die Stadt zu verlassen. Jedoch hatten die Eltern diese Information wegen ihrer Schwerhörigkeit nicht mitbekommen. Sie verließen die Stadt unter Bombardierung und schafften es Gott sei Dank unbeschadet in die Schweiz.

Roman nimmt einen Anruf im Migam-Büro in Polen entgegen. Er hilft beim Dolmetschen und erklärt: „Der wichtigste Teil meiner Arbeit ist es, dafür zu sorgen, gehörlosen ukrainische Geflüchtete eine Stimme zu geben."
Foto: Karolina Jonderko/IRC

Vor welchen Herausforderungen stehen gehörlose ukrainische Geflüchtete, wenn sie in Polen ankommen?

Oleksii: Seit Beginn des Krieges in der Ukraine befinden sich gehörlose Menschen in einem Schockzustand. Viele mussten in neue Länder fliehen, wo sie sich in einer äußerst schwierigen Lage befinden. Ein Großteil der gehörlosen ukrainischen Geflüchteten hat Schwierigkeiten, die neue Kultur und die Gesetze vor Ort zu verstehen und sich um ihre Grundbedürfnisse zu kümmern. Die Menschen in Polen waren zwar ziemlich engagiert bei der Einrichtung von Hilfsorganisationen, aber die Freiwilligen kamen an ihre Kapazitätsgrenzen. 

Roman: Wenn gehörlose Geflüchtete die Grenze überqueren, gibt es zahlreiche Probleme bei der Kommunikation mit Ehrenamtlichen oder Beamt*innen. Jetzt haben viele gehörlose ukrainische Geflüchtete in Polen ein wenig Halt gefunden, brauchen aber immer noch Hilfe bei den täglichen Aufgaben. So benötigen sie beispielsweise Unterstützung bei der Anmeldung ihrer Kinder in Schulen und anderen alltäglichen Aufgaben wie der Begleitung zu Arztterminen oder bei der Kommunikation in Banken. Gehörlose Geflüchtete haben mit doppeltem Stress zu kämpfen: dem Stress, vor dem Krieg zu fliehen und dem Stress, dass sie nicht verstehen oder verstanden werden.

Gehörlose Geflüchtete haben mit doppeltem Stress zu kämpfen: dem Stress, vor dem Krieg zu fliehen und dem Stress, nicht zu verstehen oder verstanden zu werden.

Wie sieht ein normaler Tag bei Migam aus? 

Oleksii: Migam leistet rund um die Uhr Dolmetscherdienste für gehörlose ukrainische Geflüchtete zu verschiedenen Themen. Manchmal helfen wir ihnen bei der Suche nach Arbeit oder einer Unterkunft. Das sind keine einfachen Aufgaben, dennoch arbeiten wir daran, sie gemeinsam Schritt für Schritt zu lösen.

Roman: Wir helfen beim Dolmetschen bei einer Reihe von Aufgaben. Wir haben zum Beispiel die Geburt von zwölf Kindern gehörloser Eltern miterlebt. Wir halfen beim Dolmetschen von Beratungsgesprächen mit Gynäkolog*innen und bei der Vor- und Nachsorge für diese Familien. 

Einmal kam ein gehörloser ukrainischer Geflüchteter zu uns, nachdem er mehr als zwei Tage lang nach seiner Frau gesucht hatte. Ein Rettungswagen war für seine Frau gerufen worden und hatte sie in ein Krankenhaus gebracht, wo sie operiert wurde. Da sie in Polen noch nicht als Geflüchtete registriert worden war, hatte das Krankenhaus keine offizielle Akte von ihr. Nachdem er sich an Migam gewandt hatte, trat unser gesamtes Team in Aktion und wir konnten das Paar wieder zusammenführen.

Roman und Oleksii scherzen miteinander im Migam-Büro in Warschau, Polen.
Foto: Karolina Jonderko/IRC

Wie gefällt dir deine Arbeit bei Migam?

Oleksii: Ich möchte weiterhin für das Migam-Dolmetscherteam arbeiten. Für uns ist es wichtig und bereichernd, gehörlosen ukrainischen Geflüchteten zu helfen. Meine Arbeit erfüllt mich mit großer Zufriedenheit.

Roman: Wenn ein Gespräch beginnt, weiß man nie, was einen erwartet. Aber im Laufe des Gesprächs fängt man an, einige Probleme zu entschlüsseln und man kann sehen, wie eine gehörlose Person, die weder die polnische Laut- noch die Gebärdensprache beherrscht, zu lächeln beginnt. Das Wichtigste ist, dass die Person gehört wird. Das macht uns glücklich.

Gibt es etwas, was du der hörenden Gemeinschaft sagen möchtest?

Oleksii: Ich möchte, dass diejenigen von euch, die gut hören, aber die Gebärdensprache nicht kennen, sie lernen. Die Gehörlosengemeinschaft würde das mit großer Freude begrüßen. Gehörlose Geflüchtete können ohne unsere Hilfe kein erfülltes Leben führen und sich integrieren.

Roman: Ich möchte sie daran erinnern, dass es Menschen gibt, die nicht hören können und dass sie Gehörlosen mehr Aufmerksamkeit schenken sollten. Viele Menschen verlieren mit der Zeit ihre Fähigkeit zu hören oder zu sprechen. Taubheit kann jeden Menschen treffen. Wir müssen alle daran denken, offen und hilfsbereit zu sein.

Oleksii bringt einer IRC-Mitarbeiterin bei, wie man Geflüchtete in ukrainischer Gebärdensprache begrüßt.
Foto: Karolina Jonderko/IRC

IRC und Migam

Die Zusammenarbeit von IRC und Migam hat es der Organisation ermöglicht, ihre Dienste zu erweitern und neue Dolmetscher*innen einzustellen, um gehörlose ukrainische Geflüchtete zu unterstützen, die in Polen Schutz suchen. Erfahren Sie mehr über IRCs Einsatz in der Ukraine-Krise.

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