Ihre Geburtstage verbringt Irmgard seit einigen Jahren Zuhause. „Da rufen immer soviele Leute an, dass ich sonst zu nichts komme.“ In diesem Jahr war es anders. Der Grund: COVID-19.

An ihrem 91. Geburtstag im Mai 2020 fuhr Irmgard mit ihrem Fahrrad in einen Park, trug es die Treppenstufen herunter und packte ihre Picknickdecke aus. Sie hatte selbstgemachten Apfelkuchen, eine Thermoskanne mit Kaffee und zwei Tassen dabei. Eine Flucht aus dem Wohnkomplex, um ihre Freundin Lydia zu treffen. „Ich habe behauptet, dass ich nur auf den Friedhof zum Grab meines Mannes fahre. Mir reicht es langsam mit der Isolation“, sagt sie aus zwei Metern Entfernung.  

Die Rentnerin hat wenig Zeit. Sie lebt in einem Wohnblock, der zwar altersgerecht ist, aber dennoch für viele Bewohner*innen in Rollstühlen nicht die nötige Barrierefreiheit bietet. Die 91-Jährige unterstützt, wo sie kann, oft auch Menschen, die um einiges jünger sind als sie. „Ich war in meinem Leben oft auf mich alleine gestellt. Deswegen bin ich wohl noch so fit. Ich weiß, nur ich kann mich um mich kümmern.“ Ihr Alter hält sie nicht davon ab, Besorgungen für andere zu erledigen. Als ihr ehemaliger Nachbar seine Taxischichten fuhr, ging Irmgard mit seinem Hund spazieren. Als ihre Nichte im vergangenen Jahr ins Krankenhaus musste, fuhr sie mit dem Regionalzug und ein paar Bussen von Berlin nach Sachsen, um sicherzustellen, dass deren Sohn in die Schule geht und warme Mahlzeiten bekommt. Der ehemaligen Kollegin gießt sie den großen Garten, wenn diese im Urlaub ist. Als eine sechzig Jahre jüngere Freundin krank wurde, brachte sie selbstgemachte Hühnersuppe von Alt Mariendorf nach Kreuzberg. Die Fahrt dauert fast eine Stunde mit dem öffentlichen Nahverkehr.

Eine Rentnerin macht einen Photo mit einem Smartphone
Auch Fotos für Instagram zu schießen gehört zu den Aufgaben einer ehrenamtlichen Oma.
Foto: Lydia Ciesluk/IRC

Die Corona-Pandemie veränderte Irmgards Leben. Sie konnte einige Monate lang nur ihre Nachbar*innen sehen. „Das war ziemlich deprimierend. Viele alte Leute sind so schlecht drauf und ziehen mich runter. Einige waren richtig sauer, als ich sagte, dass ich mich nicht vor dem Coronavirus fürchte. Ich mache mir aber große Sorgen um meine jüngeren Freundinnen, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben. Hoffentlich bleiben sie alle gesund!“  

Als die Ausgangssperre begann, teilte Irmgard ihr Wissen aus den Nachkriegsjahren, die sie als Geflüchtete in Sachsen verbrachte. Sie erklärte ihren jüngeren Freund*innen, wie sich die Anzahl der Einkäufe reduzieren lässt - Essen vorkochen und in Einweggläsern haltbar machen - und wie sich Energie sparen lässt, indem man Reis unter der Bettdecke fertig garen lässt. „Ich war überrascht, wie viele mich anriefen, um zu reden,“ sagt sie.

Meine Freund*innen reisen viel und kennen Menschen überall auf der Welt. Sie haben alle Smartphones, mit denen sie sich informieren und halten über Ländergrenzen hinweg Kontakt zu anderen Menschen. Sie teilen ihre Meinung und wehren sich gegen Diskriminierung. Ich sage ihnen immer, dass sie gut aufeinander aufpassen müssen.“

Irmgard ist eine ehrenamtliche Oma. Sie verurteilt nie, hört zu und gibt Ratschläge. Obwohl sie findet, dass sich während ihres Lebens viele Dinge rasant entwickelt haben, seien Menschen und ihre Beziehungen schon immer kompliziert gewesen: „Das war im Beruf genauso wie im Privatleben.“ Bei ihr gibt es immer etwas zu essen. Das Rezept für ihre berühmte Lasagne erhielt sie kurz nach ihrer Flucht aus Schlesien von den Samaritern. Es enthält Unmengen Butter, Sahne und verschiedene Käsesorten und wurde verteilt, um die abgemagerte Bevölkerung zu stärken. Irmgard besteht darauf, dass kein Essen verschwendet wird. Sie heißt Freund*innen von Freund*innen, die beim Aufessen helfen, immer willkommen. Darum hat ihre Lasagne inzwischen Fans aus Japan, Spanien, Italien, Indien und Kamerun.

 Irmgard gibt die Gastfreundschaft zurück, die sie selbst erfahren hat. „Wir hatten wirklich Glück und wurden von einer herzlichen Bäuerin aufgenommen als wir nach Deutschland kamen“, erzählt sie. 1945 musste ihre Familie den Hof in Schlesien mit allem Besitz und einem Fohlen zurücklassen. Sie war damals 16 Jahre alt. „Es hieß, die Russen würden kommen, nachdem Deutschland den Krieg verloren hatte. Angeblich sollten wir nur drei Tage auf der anderen Seite der Oder Schutz suchen. Zurück in unsere Heimat kamen wir aber nie.“ Irmgards Eltern nahmen zwei weitere Familien auf dem Pferdewagen mit. Die Flucht begann am 20. Januar bei -20 Grad. Die Erfrierungen, die sie damals an Knöcheln und Knien erlitt, schmerzten Irmgard ihr Leben lang. „Leider verstarb unser Pferd in Dresden“, erinnert sie sich. Von dort ging die Familie nach Schönbach. Ihr Bruder blieb dort. Irmgard arbeitete einige Jahre in der Landwirtschaft. Dann zog sie auf Anraten ihrer Schwester nach Leipzig, um als Haushaltshilfe und später in einer Augenklinik zu arbeiten. 

„Ein Freund meines Bruders lebte in Siegen in Westdeutschland. Ich besuchte ihn und sah, welche Möglichkeiten es dort gab. Damals war allein die Vorstellung verlockend, soviel Schokolade essen zu können, wie man wollte“, lacht sie. Irmgard überredete eine Freundin und deren Schwester aus der DDR zu fliehen. „Das war Anfang May 1957. Damals war von der Mauer noch nichts zu sehen. Wir fuhren mit dem Zug, das war fast so einfach wie in den Urlaub fahren.“ Die drei sagten dem Grenzbeamten, sie würden einen Tagesausflug machen, ließen ihren Pass zurück und alles, was sie nicht am Leib trugen. „Wir wurden gründlich durchsucht im Zug, das war das Schlimmste für mich, zuzusehen, wie Fremde in meinen Sachen wühlten. Unser Erspartes war nach der ersten Übernachtung aufgebraucht. Wir fanden eine Anstellung in einem Hotel und arbeiteten 17-Stunden-Schichten. Damals musste alles noch per Hand gewaschen werden.“ Nach einigen Jahren fand Irmgard eine Stelle in einer Kureinrichtung in Bad Oeynhausen. Dort erholten sich Berliner*innen mit Herz-oder Lungenproblemen. Einer davon wurde Irmgards Ehemann. „Als 1961 die Mauer gebaut wurde und viele aus Westberlin weggingen, zog ich hin. Meine Schwester dachte, ich sei verrückt geworden“, schmunzelt Irmgard. 

 Bis heute ist sie Wahlberlinerin und schätzt die Angebote der Hauptstadt: „Hier gibt es alles, was man braucht, viele Grünflächen und Veranstaltungen für jeden Geschmack.“ Die Clubszene kennt Irmgard auch ein bißchen. Als Sechzigjährige begleitete sie die Tochter einer Freundin in eine Disko, da sich diese in der Stadt nicht auskannte. Irmgards Offenheit hat ihr einen großen Freundeskreis beschert. Sie sagt, sie sei froh, nicht in der heutigen Zeit aufzuwachsen. „Die Welt wird immer komplexer. Arbeitsverträge sind befristet.“ Die aktuellen Geschehnisse und Gewalt gegen Minderheiten machen sie traurig. „Es ist schlimm, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe noch immer anders behandelt werden.“ Dennoch hat sie Hoffnung in die junge Generation. „Meine Freund*innen reisen viel und kennen Menschen überall auf der Welt. Sie haben alle Smartphones, mit denen sie sich informieren und halten über Ländergrenzen hinweg Kontakt zu anderen Menschen. Sie teilen ihre Meinung und wehren sich gegen Diskriminierung. Ich sage ihnen immer, dass sie gut aufeinander aufpassen müssen.“