Am Anfang ist der Krieg noch weit weg. Aleppo scheint lange unberührt zu bleiben. Amin, Heva, der kleine Bruder und ihre Mutter hoffen, dass bald wieder alles normal ist. Dass der Krieg aufhört. Doch nach eineinhalb Jahren wird auch Aleppo bombardiert. Die Welt erlebt das brutale Bomben, das rücksichtslose Zerstören am Fernseher und im Internet. Amin und seine Familie sind mitten drin, in ihrem eigenen Haus. Der ganze Straßenzug wird zerstört, sie werden im Keller verschüttet. Nach ihrer Rettung beschließen sie zu fliehen. Am Anfang sind sie noch hoffnungsvoll, dass sie wieder zurück können. In ihre Heimatstadt. In ihr altes Leben. Sie wohnen sechs Monate in einer Tankstelle in Afrin. Doch ist das überhaupt noch ein würdiges Leben:

„Leben? Es gab kein Leben mehr. Wir hatten keinen Strom. Kein Wasser. Jeden Tag gingen meine Mutter und ich stundenlang Wasser holen“

- erinnert sich Amin.

Irgendwann geht es nicht mehr. Sie beschließen, nach Europa zu fliehen. Ein Onkel lebt in Belgien, einer in Deutschland. Gemeinsam finanzieren sie die teure Flucht, die insgesamt acht Monate dauern wird. Erste Station ist die Türkei. Hier bleibt die Familie über knapp vier Monate. Schlepper gibt es genug, das Geschäft mit den Geflüchteten ist lukrativ. Nur gemeinsam dürfen sie nicht reisen. „Die Schlepper haben Frauen, Männer und Kinder getrennt. Warum, das wissen wir bis heute nicht. Den meisten ging es ohnehin nur ums Geld.“ Schlepper bringen sie ohne Mutter nach Griechenland. Ein erster Versuch scheitert. Die Schlepper hatten vergessen, das kleine Boot mit Treibstoff zu versorgen. Zum Glück passiert niemandem etwas. Mit 15 Jahren trägt Amin die Verantwortung für seine beiden jüngeren Geschwister, zwölf und acht Jahre. Ganz neu ist es nicht für ihn. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 2008 lernt er schnell, dass er als Ältester stark sein muss. Doch in fremden Ländern, ohne Kenntnisse der Sprache, das sind neue Herausforderungen.

Der zweite Fluchtversuch über das Meer glückt, sie sind in Griechenland. Zweimal landen sie im Gefängnis. Einmal bekommen sie drei Tage nichts zu essen. Drei Monate bleiben sie in Griechenland. „Wir wären gerne hier geblieben. Für uns war das wichtigste, dass wir endlich wieder zur Schule gehen können. Aber wir durften weder in der Türkei bleiben noch in Griechenland.“ Griechenland verpflichtet die allein reisenden Minderjährigen das Land innerhalb von sechs Monaten zu verlassen. Ganz egal wohin. Sonst müssen sie erneut ins Gefängnis. Sie beschließen, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen, zu ihrem Onkel, der bereits in Andernach wohnt.

„Wir wollten einfach nur Frieden haben. Wo wir leben, war uns egal.“

Sie suchen eine Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen. Ein Onkel fährt nach Österreich. Dort trifft er den Verwandten eines Schleppers und bezahlt für Amin und seine Geschwister. Dann geht es los. Stets mit dabei: Die Angst, erwischt zu werden. Die Angst, getrennt zu werden. In einem LKW geht es mit der Fähre nach Italien. Als sie an einem Waldstück herausgelassen werden, klettert Amin auf einen Baum, versucht sich zu orientieren. Sie sehen in der Ferne eine Stadt, die Touristenhochburg Bari. Der schnellste Weg führt über die Autobahn. Also gehen sie zu Fuß, am Straßenrand entlang, in die unbekannte Stadt, schlagen sich zum Bahnhof durch und kaufen ein Ticket nach Rom. In der italienischen Hauptstadt wartet ein neuer Schlepper, der sie zu den Verwandten nach Deutschland bringt. Sie sind angekommen. Niemandem ist etwas passiert.

Ihre Mutter kommt zwei Monate später an. Endlich sind sie wieder vereint. Mit Unterstützung des Onkels bauen sie sich ein neues Leben in Deutschland auf.  Sie erhalten einen anerkannten Flüchtlingsstatus und eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre.

Deutschland. Das heißt für Amin, Heva und den kleinen Bruder: Endlich wieder Schule. Mittlerweile haben die Geschwister drei Jahre Schule verpasst. Alle sind hungrig auf Wissen. Sie wollen viel nachholen. Doch so einfach ist es nicht. Die frühe Ankunft 2014 erleichtert zwar die Grenzübertritte, aber sie erschwert ihnen das Ankommen. Die Gesellschaft und mit ihr die Strukturen sind nicht auf die vielen Geflüchteten eingestellt. „Ich habe mit meinem Onkel Schule für Schule abgeklappert. Aber immer hat etwas dagegen gesprochen uns aufzunehmen“, erinnert sich Amin. Dann, endlich, erklärt sich eine Schule bereit: Die St. Thomas Realschule Plus in Andernach. Hier geht auf einmal alles einfach und unkompliziert. Der Direktor erklärt Amin, er könne direkt anfangen. Amin kommt in die achte Klasse. Zwar gibt es zunächst keinen Sprachkurs und Englisch kann er auch nicht, doch Hände und Füße ersetzen die verbale Kommunikation. Da ist der Mathe-Unterricht ein Lichtblick. Die Zahlen an der Tafel sind die gleichen wie Zuhause in Syrien. Einmal meldet sich Amin: „Ich hatte die Frage nicht verstanden. Aber die Lehrerin hat zuerst auf ein Rechteck gezeigt, dann auf die Seiten. Da bin ich davon ausgegangen, dass es um die Berechnung der Fläche geht. Also bin ich zur Tafel gegangen und habe a*b aufgeschrieben.“

Amins große Leidenschaft ist die Naturwissenschaft. Mathe, Physik, das macht ihm Spaß. Seine mittlere Reife macht er eineinhalb Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland mit einem Notendurchschnitt von 1,3. Dann beginnt der Kampf um Bildung erneut. Sein Deutsch sei nicht gut genug für das Gymnasium, wird ihm gesagt, er müsse unbedingt Niveau C1 nachweisen. Und das trotz seines herausragenden Realschulabschlusses. Doch Amin gibt nicht auf und findet seinen Weg auf das Gymnasium. Derzeit wartet er auf die Ergebnisse seines Abiturs. Dass er es mit guten Noten bestehen wird, ist klar. Danach geht es an die Uni: mathematische Physik will er studieren. Heva hat noch ein paar Jahre Schule vor sich, weiß aber auch schon, was sie werden will: Bauingenieurin. Technik und Rechnen scheint den Geschwistern zu liegen.

Dass sie heute die Bildung erfahren, von der sie während der Flucht immer träumten, haben sie auch den Lehrkräften zu verdanken und der Schule, die ihnen den Rücken gestärkt hat. „Ich konnte immer nach dem Unterricht zu den Lehrern gehen und sie fragen, was wir heute besprochen hatten. Da hatte ich dann mein Wörterbuch dabei. Immer haben sie sich Zeit genommen“, erinnert sich Heva. Amin erzählt eine Geschichte aus dem Sozialkundeunterricht: „Da ging es um Menschenrechte. Der Lehrer hat mich direkt angesprochen, obwohl ich mich gar nicht gemeldet hatte. Er bat mich, die Menschenrechte zu erklären und sagte mir, ich solle langsam machen und mir Zeit nehmen. Das fand ich toll.“

Den Lehrkräften der St. Thomas Realschule Plus in Andernach gelingt, was IRC mit dem Healing-Classrooms-Ansatz in Schulen weltweit tragen möchte: Für Kinder, die einschneidende, negative Erfahrungen in und nach Krisen gemacht haben, sichere und positive Lernorte zu schaffen. Orte, an denen sie sich von dem Erlebten erholen und weiter entwickeln können. Daran haben sie auch in mehreren Workshops zum Healing-Classrooms-Ansatz mit IRC gearbeitet.

Heute sind die Geschwister glücklich in Deutschland. Hier ist ihre neue Heimat. Eine Rückkehr nach Syrien können sie sich nicht vorstellen, sie möchten bleiben.

„Wir fühlen uns hier sehr wohl. Wenn wir nach Belgien fahren, um unseren Onkel zu besuchen, fehlt etwas. Wenn wir wieder in Deutschland sind, sagen wir uns: puh, endlich wieder Zuhause.“