Unerbittliche Kämpfe, Bombenangriffe auf Krankenhäuser, Schulen und Wohnviertel sowie hunderttausende Menschen, die in der Provinz Idlib vertrieben wurden: In Syrien herrscht eine der größten humanitären Katastrophen seitdem der Krieg vor neun Jahren begann.

9 Jahre leiden die Syrer*innen nun unter anhaltender Gewalt: Die Lebensbedingungen haben sich enorm verschlechtert, die Gesundheitsversorgung ist unzureichend, die Infrastruktur, darunter das Schulwesen, großenteils zusammengebrochen. Zahlreiche und eklatante Menschenrechtsverletzungen kommen hinzu, bis zu einer Million Zivilist*innen aus dem Nordwesten Syriens sind auf der Flucht – es ist die größte Vertreibung seit Beginn des Konflikts im Jahr 2011.

„Willkommen im Zeitalter der Straflosigkeit, in dem Kriegsverbrechen ungestraft bleiben und humanitäres Völkerrecht nicht mehr verbindlich zu sein scheint“, sagt David Miliband, Präsident und CEO des International Rescue Committee.

Hier neun Dinge, die Sie wissen sollten, um die aktuelle Lage in Syrien zu verstehen:

1. Seit Anfang Dezember 2019 sind fast eine Million Zivilist*innen in Nordwestsyrien vertrieben worden - das sind täglich etwa 11.000 Menschen.

Kind in syrischem Flüchtlingslager
Ein syrisches Kind schläft unter freiem Himmel in einem Flüchtlingslager nahe der türkischen Grenze, nachdem es aus Idlib fliehen musste.
Foto: AAREF WATAD/AFP

Vor allem die Provinz Idlib war in den vergangenen Monaten Schauplatz intensiver Kämpfe, als die syrische Regierung und ihre Verbündeten versuchten, die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Im vergangenen Jahr waren zwischen April und August mehr als 400.000 Menschen gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Trotz eines Waffenstillstands gingen die Auseinandersetzungen weiter, bis sie im Dezember eskalierten.

Seitdem sind im Durchschnitt stündlich bis zu 400 Menschen aus ihren Häusern geflohen - in besonders kritischen Zeiten waren es sogar etwa 1.800 pro Stunde. International Rescue Committee schätzt, dass sich im Süden von Idlib noch mindestens 400.000 Menschen in der Schusslinie befinden.

Watfa, 37, verließ ihr Zuhause im Mai. Ihr Haus wurde bei einem Luftangriff zerstört, als sie mit ihrem Onkel, ihrer Cousine und ihrer Schwester gerade das Abendessen vorbereitete. „Wir versteckten uns während des Angriffs in Schutzräumen und Kellern“, sagt sie. „Es war Ramadan und wir wollten Iftar vorbereiten. Als wir nach draußen gingen, sahen wir neun Flugzeuge, die Bomben abwarfen.“

2. Helfer sind zur Zielscheibe geworden.

2019 sind zwei syrische Mitarbeiter der Syrian American Medical Society, einer Partnerorganisation von RESCUE, bei einem Luftangriff getötet worden. Sie versorgten verwundete Zivilist*innen im Süden von Idlib. Trotz der zunehmenden Gefahr und gezielter Angriffe auf Krankenhäuser und Kliniken leisten unsere Mitarbeiter*innen weiterhin lebensrettende Hilfe.

So wie dieser Familienvater und RESCUE-Mitarbeiter: Selbst schon drei Mal geflohen, schickte er vor kurzem seine Frau und seine Kinder an einen sicheren Ort. Er selbst -  der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben möchte, blieb, um weiterhin Tausenden von vertriebenen Familien bei der Beschaffung von lebensnotwendigen Dingen wie Lebensmitteln und Zelten zu helfen.

„Als ich mich von meinen Kindern verabschiedete, waren sie völlig verzweifelt“, sagt er. „Sie weinten, schrien und klammerten sich zum Trost an ihre Mutter. Es war schrecklich. Aber man muss als Elternteil stark und positiv bleiben, auch wenn man sich nicht so fühlt.“

3. Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen sind ungeheuerliche Kriegsverbrechen.

Am 25. Februar wurde während Luftangriffen ein Krankenhaus getroffen. Vier medizinische Fachkräfte wurden verletzt. Zuvor wurde am 26. Januar ein von International Rescue Committee unterstützter Krankenwagen bei einem Luftangriff beschädigt. Weitere Wagen mussten aus dem Konfliktgebiet gebracht werden. Aufgrund der militärischen Offensive mussten insgesamt 84 medizinische Einrichtungen, die von RESCUE und anderen humanitären Organisationen betrieben werden, ihre Arbeit einstellen.

Einrichtungen, die weiterhin in Betrieb sind, mangelt es an Ausrüstung und Medikamenten. Sie müssen mit einer unzureichenden Stromversorgung auskommen. Die Ärzte haben doppelt so viele Patient*innen, wie sie versorgen können. Eine Ärztin berichtet, dass sie große Angst davor habe, Menschen, die dringend Hilfe brauchen, nicht mehr versorgen zu  können.

Ein Baby wird von einem Arzt in Syrien behandelt
Der acht Monate alte Zaid erholt sich 2018 von einer Lungenentzündung in einer Klinik in Idlib, die von der Syrian American Medical Society (SAMS) mit Unterstützung von IRC betrieben wird. Photo: Syrian American Medical Society
Foto: Syrian American Medical Society

4. Kinder leiden besonders stark unter den psychologischen Auswirkungen des Krieges.

Als direkte Folge der jüngsten Kämpfe im Nordwesten des Landes zeigen syrische Kinder ein erschütterndes Maß an psychischen Störungen. Laut einer im März 2020 durchgeführten RESCUE-Umfrage geben 62 Prozent der Betreuer an, dass ihre Kinder oft weinen, weil sie ein Trauma erlebt haben oder weil sie sich vor dem Geräusch von Flugzeugen fürchten. 47 Prozent sagen, dass ihre Kinder Albträume haben oder nicht schlafen können.

„Immer wenn mein Jüngster ein Flugzeug hört, rennt er ins Haus und versteckt sich unter den Kissen“, sagt der Vater eines 4-Jährigen. Sein Haus wurde von einer Rakete getroffen, als er gerade drinnen war. „Er schaute in den Himmel, aus Angst, dass die Flugzeuge angreifen würden. Wenn er sie hörte, rannte er in den Keller.“ So auch vor kurzem, erinnert sich der Vater. Beim Anblick eines Hubschraubers schrie der Junge. Er wolle in den Keller, doch da war das Haus schon zerstört.“

5. Es werden immer mehr unterernährte Kinder registriert.

Etwa 6,5 Millionen Syrer*innen haben nicht genug zu essen. Im vergangenen Oktober wurden über 11 Prozent der Kinder unter fünf Jahren in von International Rescue Committee unterstützten Kliniken in Idlib und Aleppo als akut unterernährt eingestuft. Die Gesamtrate der unterernährten Kinder unter fünf Jahren in Nordwestsyrien liegt bei etwa 4,7 Prozent. Auch schwangere Frauen sowie stillende Mütter sind gefährdet. Im Rahmen einer kürzlich durchgeführten RESCUE-Studie kam heraus, dass Mütter ihren Säuglingen Kräutertee zu trinken geben mussten, weil sie zum Stillen zu unterernährt waren.

6. Idlib war einst ein sicherer Ort.

Jahrelang flohen Zivilist*innen vor der Gewalt in anderen Teilen Syriens nach Idlib. Vor dem Krieg lebten dort 1,5 Millionen Menschen - heute sind es 3 Millionen. Fast alle sind in die nordwestliche Region der Provinz geflohen, ein kleines Gebiet nahe der syrisch-türkischen Grenze. In die Türkei geht es nicht weiter. Die Grenze ist seit 2015 zu.

Khalil, 32, floh von Aleppo, wo er ein erfolgreicher Anwalt war, nach Idlib. Er weiß nicht, wie es bei ihm weitergehen soll. „Als wir kamen, war es schwierig. Das Leben ist hart - es herrscht Angst und Instabilität.“

Da die Lager voll sind, suchen viele Familien Zuflucht in öffentlichen Gebäuden wie Schulen und Moscheen, manchmal sogar in leeren Geschäften und Rohbauten. Etwa 17.000 Menschen leben in offenem Gebiet – ohne Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen. Neuankömmlinge finden keinen Platz, um ihre Zelte aufzustellen Die Straßen und Orte sind schon überfüllt.

7. Die Zahl der Todesopfer in Syrien steigt.

Seit 2011 sind fast 500.000 Syrer*innen getötet worden. Innerhalb von drei Monaten sind 465 Personen in Idlib gestorben. Schulen, Flüchtlingslager und andere Unterkünfte wurden angegriffen. Am 25. Februar wurden 10 Schulen bei Luftangriffen getroffen. 21 Menschen, darunter neun Kinder, wurden getötet. Anfang März kamen 35 Menschen bei einem Luftangriff ums Leben, die in einer Scheune Unterschlupf gesucht hatten.

Am 6. März trat ein von der Türkei und Russland vereinbarter Waffenstillstand in Kraft. Selbst wenn er eingehalten wird, wird er weder den Krieg noch das Leiden der Syrer*innen beenden. International Rescue Committee fordert alle Konfliktparteien auf, sich im UN-Friedensprozess in Genf zu engagieren, um den Konflikt in Syrien beizulegen.

8. Auch außerhalb von Idlib brauchen Menschen Hilfe.

6,2 Millionen Menschen wurden innerhalb von Syrien vertrieben. 11,7 Millionen Menschen benötigen dringend humanitäre Hilfe. Tausende Familien haben keine Unterkünfte, Nahrung und Wasser sowie keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Bildung und sanitären Einrichtungen. Die Hälfte der medizinischen Einrichtungen in Syrien sind außer Betrieb oder nur eingeschränkt funktionsfähig. Mehr als jede dritte Schule ist beschädigt oder zerstört.

Im Nordosten leiden die Menschen noch immer an den Folgen der Offensive von Oktober 2019, bei der 70 Menschen getötet wurden. 70.000 sind nach wie vor auf der Flucht. In Raqqa, Deir-ez-Zour und anderen Städten bleibt ISIS eine anhaltende Bedrohung; es gibt regelmäßige Schießereien und Explosionen.

Die 5,5 Millionen Syrer,*innen die in die Nachbarländer geflohen sind, haben nur begrenzten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Rechtsberatung. Denjenigen, die einst im Rahmen eines Umsiedlungsprogramms die Einreiseerlaubnis in die Vereinigten Staaten erhalten sollten, dürfen nicht kommen. Die Trump-Administration hat die Flüchtlingskontingente gekürzt: Im Finanzjahr 2019 durften nur 563 syrische Flüchtlinge in die USA einreisen. 2020 werden es voraussichtlich nur 320 sein.

Seit 2012 hat International Rescue Committee an einigen der gefährlichsten Orten in Syrien gearbeitet, darunter in Aleppo, Ost-Ghouta und Raqqa. Dort haben wir besonders Frauen, Mädchen und andere schutzbedürftige Menschen unterstützt und Programme zur medizinischen Versorgung, Bildung und wirtschaftlichen Unabhängigkeit bereitgestellt.

Zerstörte Gebäude in Syrien
Zerstörte Gebäude im Gouvernorat Raqqa. Wohnraum und Elektrizität sind begrenzt. Die Stadt ist nach wie vor vermint.
Foto: Jacob Russell/IRC

9. So können Sie den Syrer*innen helfen, diese Krise zu überstehen.

In Syrien unterstützt International Rescue Committee bis zu eine Million Menschen - fast die Hälfte davon sind Kinder. IRC arbeitet in medizinischen Einrichtungen wie Kliniken sowie in mobilen Teams und verteilt Bargeldhilfen an besonders schutzbedürftige Familien, damit diese Lebensmittel, Wasser und andere lebensnotwendige Dinge auf den lokalen Märkten kaufen können. IRC bietet auch Bildungsprogramme an und arbeitet dabei u.a. mit dem Sesame-Workshop zusammen. Ziel dabei ist es, geflüchtete syrische Kinder innerhalb des Landes als auch in den Nachbarstaaten psychosozial zu unterstützen, damit diese erlebte Kriegstraumata bewältigen und langfristig wieder ihr volles Potenzial erreichen können.

Erfahren Sie mehr über unsere Arbeit in Syrien.