Die COVID-19-Pandemie hat auch in diesem Jahr, dem zweiten Pandemiejahr, weltweit ihre Spuren hinterlassen. Die schwächsten Bevölkerungsgruppen sind dabei unverhältnismäßig stark von den Auswirkungen betroffen. Die Zahl der Vertriebenen weltweit ist auf ein Rekordhoch von 82,4 Millionen Menschen angestiegen. Das entspricht der Gesamtzahl der Bevölkerung Deutschlands. Der einzige Ausweg aus der globalen Pandemie ist, alle Menschen in vollem Umfang in die Reaktions- und Wiederaufbaumaßnahmen einzubeziehen. Die Umsetzung des EU-Aktionsplans für Integration und Inklusion ist ein wichtiger Schritt dorthin.

Was ist der EU-Aktionsplan für Integration und Inklusion?   

Die EU stellte im November 2020 ihren Aktionsplan für Integration und Inklusion 2021-2027 vor. Ein Fahrplan zur Stärkung der Integration und Teilhabe von Asylbewerber*innen, Geflüchteten und anderen Personen mit Migrationshintergrund in Europa in den nächsten sechs Jahren. 

Der Aktionsplan deckt alle Phasen des Integrationsprozesses ab. Besonders wichtig sind Bereiche wie Zugang zu Bildung und Ausbildung, Beschäftigung, Gesundheitsversorgung und Wohnraum. Um die Integrationsbemühungen hier zu unterstützen, wird im Aktionsplan die Bedeutung der Beteiligung von Geflüchteten und Migrant*innen am politischen Entscheidungsprozess klar anerkannt. Mit dem Plan werden den Mitgliedsstaaten ehrgeizige Ziele gesetzt und auch nachverfolgt, inwiefern Fortschritte im Vergleich zu diesen Zielen gemacht werden.

Die Europäische Kommission spielt eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von Integration durch Finanzierung, Entwicklung von Leitlinien und Förderung von Partnerschaften. Die EU-Mitgliedsstaaten haben jedoch die Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich. Das heißt, es liegt an jedem EU-Staat, diesen Plan auf nationaler Ebene umzusetzen, um Geflüchtete auf ihrem Weg zu Integration und Inklusion zu unterstützen.    

Die 19-jährige Rania aus Syrien verteilt Essen in New Jersey.
Die 19-jährige Rania aus Damaskus, Syrien, verteilt Mahlzeiten an Menschen in New Jersey, die während der Pandemie von Ernährungsunsicherheit betroffen sind.
Foto: A Oberstadt/IRC

Warum ist dieser Plan durch COVID-19 noch wichtiger geworden?   

Die COVID-19-Pandemie hat gefährdete Gruppen in der EU unverhältnismäßig stark getroffen. Für Geflüchtete ist es nun noch schwerer, ihr Leben wieder aufzubauen und sich in neuen Gemeinschaften einzuleben. 

Für Geflüchtete und andere Migrant*innengruppen ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung, insbesondere zum COVID-19-Impfstoff, häufig mit höheren Hürden verbunden. Bislang haben es viele Staaten versäumt, diese Ungerechtigkeit angemessen anzugehen. Das führte laut dem Bureau of Investigative Journalism dazu, dass bis September 2021 fast vier Millionen Migrant*innen ohne Papiere in Europa nicht geimpft sind. 

Geflüchtete und Migrant*innen sind in der Regel mit einer größeren Existenz- und Einkommensunsicherheit konfrontiert als die Allgemeinbevölkerung. Eine neue IRC-Studie in Zusammenarbeit mit dem Overseas Development Institute zeigt die Auswirkungen von COVID-19 auf die wirtschaftlichen Beschäftigungsmöglichkeiten von Geflüchteten. Etwa 96 Prozent der in Griechenland befragten Geflüchteten und schutzbedürftigen Mitglieder der Aufnahmegemeinschaften gaben an, dass ihre Aussichten auf Arbeit durch COVID-19 beeinträchtigt wurden. Für Frauen sehen die Chancen auf Arbeit noch schlechter aus.  

Jaqueline, eine Übersetzerin, hält ihr Baby. Das Baby winkt.
Jacqueline steht mit ihrem Sohn im Arm vor ihrem Zuhause. Sie arbeitet als Übersetzerin und spricht fünf Sprachen. Sie hilft anderen Geflüchteten dabei, sich an ihre neue Gemeinde zu gewöhnen.
Foto: A Oberstadt/IRC

Wie kann der Aktionsplan dazu beitragen, eine langfristige und umfassende Antwort auf COVID-19 zu finden?  

Viele Menschen halten es für selbstverständlich, dass die Gesundheitsversorgung leicht zugänglich und ohne weiteres verfügbar ist. Dies ist jedoch für viele Menschen, die neu angekommen sind - auch innerhalb Europas -, nicht der Fall. Dieser unzureichende Zugang zur Gesundheitsversorgung ist seit langem ein Hindernis für Integration und Inklusion. Geflüchtete mit gesundheitlichen Problemen haben es oft schwer, einen Arbeitsplatz zu finden oder an Bildungsmaßnahmen teilzunehmen. Dies hat sich durch die weltweite Pandemie noch verschärft. 

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie hatten globale Rahmenabkommen - darunter der Globale Pakt für Geflüchtete - die Bedeutung eines gerechten Zugangs zur Gesundheitsversorgung für Migrant*innen anerkannt. Strukturelle Ungleichheiten bestehen jedoch fort. Der Schwerpunkt des Aktionsplans auf einer integrativen Gesundheitsversorgung kann dazu beitragen, einige dieser Herausforderungen zu bewältigen. 

Mythen rund um COVID-19 untergraben zudem oft die öffentliche Gesundheitsberatung. Wo Gemeinschaften sprachliche, kulturelle und praktische Hindernisse beim Zugang zu Gesundheitsdiensten haben, können ihre Auswirkungen besonders ausgeprägt sein. Dies kann z.B. dazu führen, dass die Menschen unsicher sind oder keinen Zugang zum Impfstoff haben, und so besonders anfällig für COVID-19 sind. 

Die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zur Gesundheitsversorgung sollte für die EU eine Priorität sein. Dies kann durch die Bereitstellung von Informationen in verschiedenen Sprachen und die Entwicklung maßgeschneiderter Strategien zur Bekämpfung von Fehlinformationen unterstützt werden. 

Die Programme von IRC in Griechenland unterstützen Asylsuchende - insbesondere auch deren Zugang zum Arbeitsmarkt. Seit dem Ausbruch der Pandemie haben wir gesehen, dass die bestehenden Herausforderungen für diese Gruppen noch zugenommen haben. 

Zwar haben Geflüchtete das Recht, in Griechenland zu arbeiten, ebenso wie Asylbewerber*innen sechs Monate nach Abschluss ihres Antrags. Doch in der Praxis haben bürokratische Hindernisse lange Zeit ihren Zugang zur Beschäftigung erschwert. So sind beispielsweise die Eröffnung eines Bankkontos, die Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung oder die Beschaffung einer Sozialversicherungsnummer für eine Beschäftigung unerlässlich für den Eintritt in den Arbeitsmarkt. Für Geflüchtete ist das nur schwer zu bewerkstelligen. 

Da sich die Gemeinden nach der weltweiten Pandemie langsam wieder öffnen, können Integrationshilfen für Migrant*innen (z.B. Schulungen zur Berufsvorbereitung und Sprachförderung) dazu beitragen, die Beschäftigungsmöglichkeiten zu verbessern - sowohl in Griechenland als auch darüber hinaus. Ein besserer Zugang zur Kinderbetreuung ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung, um den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt zu unterstützen.   

In vielen Ländern haben die Regierungen die Stimmen und Bedürfnisse von Migrant*innen bei der Reaktion auf die Pandemie nicht systematisch berücksichtigt. Dies kann die Bemühungen untergraben, Fehlinformationen entgegenzuwirken oder Dienstleistungen zu erbringen, und auch Hindernisse für Integration und Inklusion schaffen. Stattdessen sollte eine sinnvolle Beteiligung auf dem Konzept der Mitgestaltung und, wenn möglich, der Miteigentümerschaft beruhen.  

Die Zusammenarbeit mit Geflüchteten und von ihnen geleiteten Organisationen (RLOs, refugee-led organisations) war für die Bekämpfung von COVID-19 von entscheidender Bedeutung.   

IRC-Mitarbeitende klären über Hygienemaßnahmen in Lesbos auf
IRC-Mitarbeitende klären über Hygienemaßnahmen auf Lesbos, Griechenland auf.
Foto: L Gouliamaki/IRC

Wie können die EU und die Mitgliedsstaaten dies in die Tat umsetzen?  

Anlässlich des einjährigen Bestehens des EU-Aktionsplans für Integration und Inklusion fordert IRC die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf, fünf zentrale Maßnahmen zu ergreifen:   

  1. Vollständige und rasche Umsetzung des EU-Aktionsplans für Integration und Inklusion (2021-2027), mit Gesundheit und Beschäftigung als zwei der wichtigsten Bereiche.  
  2. Integrationsunterstützung bereits bei der Ankunft von Menschen im Aufnahmeland, inklusive Schulungen zur Berufsvorbereitung, strukturierte Sprachförderung und Zugang zu Kinderbetreuung.  
  3. Zusammenarbeit öffentlicher Gesundheitseinrichtungen mit Innenministerien, lokalen Behörden und NGOs, um sprachlich und kulturell angemessene COVID-19-Gesundheitsinformationen bereitzustellen.  
  4. Einbeziehung von Geflüchteten- und Migrant*innenorganisationen als gleichberechtigte Partner in die Planung der langfristigen Reaktion auf COVID-19.   
  5. Austausch mit den Mitgliedsstaaten über die Bekämpfung von Fehlinformationen und die Erleichterung des gleichberechtigten Zugangs zu Gesundheitsversorgung und Informationsangeboten für Asylbewerber*innen, Geflüchtete und andere Migrant*innen.